Die Lüge
Hardenberg gewesen. Und dass ausgerechnet Nadias Gefälligkeitsarbeitgeber rein zufällig an der Telefonzelle vorbeigekommen war und aus purer Hilfsbereitschaft gehandelt hatte, konnte sie sich nur schwer vorstellen. Aber Nadia hatte ja etwas von einem Bekannten erzählt, fiel ihr ein. Es war nicht mehr wichtig.
Fast automatisch spulte sich in ihrem Hirn ein blutiges Drama ab. Eine Frau geht zu ihrem Wagen. Als sie ihn erreicht, taucht hinter dem Betonpfeiler ihr Double auf, in der erhobenen Hand einen Knüppel oder besser eine Eisenstange. Ein gezielter Schlag, die Frau am Wagen bricht mit blutüberströmtem Schädel zusammen. Ihre Mörderin zerrt ihr den Autoschlüssel aus der Hand, öffnet den Kofferraum, hievt den leblosen Körper hinein.
Sie hätte stundenlang hinter der Betonsäule stehen und den Faden weiterspinnen können. Allein der Gedanke half, mit der ohnmächtigen Wut fertig zu werden. Nach einer kleinen Ewigkeit ging sie zurück zu den Aufzügen, fuhr hinauf in die fünfte Etage und betrat die Räumlichkeiten von Behringer und Partner. Frau Luici lächelte ihr entgegen, ehe sie nachdenklich die Stirn in Falten legte und sich erkundigte: «Was kann ich für Sie tun, Frau …?»
«Lasko», half sie. «Ich möchte Herrn Reincke sprechen.»
«Haben Sie einen Termin?»
«Nein.» Sie erwiderte das Lächeln in Nadias Art und zogihre selbst verfasste Einladung aus der Handtasche. «Ich habe das.»
Frau Luici nahm ihr das Blatt aus der Hand, überflog es und murmelte: «Das verstehe ich nicht.» Sie hatte darauf verzichtet, Behringers Unterschrift zu fälschen. Frau Luici bemerkte den Mangel, hob den Kopf wieder. «Es ist nicht unterzeichnet.»
«Eben», sagte sie. «Und ich wüsste gerne, ob das ein Versehen war oder ob sich jemand einen Scherz mit mir erlaubt hat. Kann ich nun Herrn Reincke sprechen?»
«Selbstverständlich», sagte Frau Luici und sprang auf. Mit raschen Schritten lief sie auf die Tür von Reinckes Büro zu, klopfte kurz, öffnete, räusperte sich und sagte: «Herr Reincke, wenn Sie einen Moment Zeit hätten. Hier ist eine Dame, es hat da anscheinend wieder eine Panne gegeben.»
Zwei Minuten später saß sie Reincke gegenüber. Auch er zeigte sich sehr verlegen. Ob es an der Einladung zu einem weiteren Gespräch lag oder an dem unverhofften Wiedersehen, war schwer zu sagen. Fest stand nur, ihr Auftauchen war ihm peinlich. «Ja», sagte er endlich. «Leider ist Herr Behringer heute nicht im Haus. Er hat mir auch nichts gesagt. Es dürfte am besten sein, wenn Sie morgen mit ihm persönlich …»
Guter Gott, dass Behringer im Haus sein könnte, hatte sie gar nicht bedacht. Sie zog Herrn Reincke rasch das Blatt aus der Hand und erklärte: «Das wird nicht nötig sein. Ich bin nicht hier, um mit Herrn Behringer über meine Gehaltsvorstellungen zu sprechen. Es wäre mir zwar ein Vergnügen, aber inzwischen habe ich eine gut dotierte Stelle – bei Alfo Investment oder Philipp Hardenberg, wenn Ihnen das mehr sagt.»
Reincke nickte. Seine Augen glitten über ihre Kleidung. Den Blazer hatte sie ausgezogen und lässig über den Schoßgelegt. Der Futterstoff zeigte nach außen, ebenso das eingenähte Etikett, das bezeugte, dass es sich nicht um Massenware handelte. «Ich fand das Schreiben amüsant», fuhr sie fort. «Aber was mich wirklich zu Ihnen führt, ist Folgendes. Sie erinnern sich vielleicht, dass meine Fremdsprachenkenntnisse mangelhaft sind.»
Reincke nickte erneut und wartete.
«Meine Mutter ist plötzlich erkrankt», sagte sie. «Ich habe bei ihren Sachen einen Brief gefunden, auf Französisch. Ich verstehe kaum ein Wort und wollte Sie bitten, mir bei der Übersetzung behilflich zu sein.» Damit ließ sie die selbst verfasste Einladung in der Handtasche verschwinden und zog ihre Abschrift an «Jacques, mon chéri» heraus. Herr Reincke überflog die ersten Zeilen und stellte erst einmal fest, der Text sei lückenhaft.
«Ich weiß», sagte sie. «Aber ich brauche auch keine komplette Übersetzung, wenn ich nur in etwa weiß, worum es geht.»
Den Worten ließ sie ein künstlich wirkendes Lachen folgen und erzählte, ihr Vater sei schon vor Jahren verstorben. Nun habe sich ihr der Eindruck aufgedrängt, dass ihre Mutter nach seinem Tod einen Trost gefunden hätte.
Reincke nickte wieder und heftete die Augen auf den Text. Mit konzentriert gerunzelter Stirn begann er zu lesen, murmelte hin und wieder ein paar Worte, die keinen Sinn ergaben. Dann wurde er still, las nur noch,
Weitere Kostenlose Bücher