Die Lüge
Der dicke Mann dort stand nicht mehr allein, er unterhielt sich mit einer Frau, die einen sandfarbenen Hosenanzug, ein Tuch um den Kopf und eine große Sonnenbrille trug. Ehe sie genauer hinschauen konnte, verschwand die Frau um die Ecke. Der Mann setzte sich in Bewegung, kam näher, wechselte die Straßenseite und verschwand damit ebenfalls aus ihrem Blickfeld. Und der Pförtner erkundigte sich zum dritten Mal nach ihren Wünschen. Ungehalten erklärte sie: «Sie haben jetzt schon zweimal versucht, mich zu verbinden. Ich warte seit einer Ewigkeit.»
«Unsere Büros sind zurzeit noch nicht alle besetzt», teilte der Pförtner mit. «Vielleicht versuchen Sie es später noch einmal.»
«Nein, jetzt», beharrte sie. «Ich will nicht mit einem Büro verbunden werden. Ich muss Michael Trenkler sprechen. Verbinden Sie mich mit dem Labor.»
Der Pförtner blieb die Sachlichkeit in Person. «Welche Abteilung, bitte?»
«Ich weiß es nicht genau, aber da ist auch ein Herr Kemmerling beschäftigt. Bitte, es ist wirklich sehr dringend.»
Der Pförtner fragte in den Hintergrund: «Sag mal, Heinz, Trenkler und Kemmerling, hast du eine Ahnung, in welchem Labor die arbeiten?»
«Achtunddreißig», gab eine Stimme Auskunft. «Wenn da keiner abhebt, probier es unter vierundsiebzig. Die hatten letzte Woche einen Rechnerausfall, kann sein, dass sie …»
Sie achtete nicht auf die Unterhaltung aus dem Telefonhörer. Irgendwas ging vor da unten auf der Straße. Jetzt stand die Frau wieder an der Ecke und schaute in Richtung des Hauses. Der Wind zerrte an ihrem Tuch. Und die große, dunkle Brille – bei derart trübem Wetter.
«Ich verbinde», sagte der Pförtner. Und nebenan wurde eine Tür geschlossen. Ihre Wohnungstür! Zwei Sekunden später zog die Frau an der Straßenecke ein Handy aus der Jackentasche.
Unter der Durchwahl achtunddreißig wurde nicht abgehoben. Sie hätte auch nicht gewagt, sich zu melden. Jemand war in ihrer Wohnung und telefonierte mit Nadia. Die Wände waren dünn. Oft genug hatte sie Jasmin gehört. Die Stimme aus ihrer Wohnung drang zuerst nur als Gemurmel durch, wurde dann unvermittelt lauter. «Ich bin nicht blind, und so groß ist die Bude nicht. Was musstest du blöde Kuh auch die Schnauze so weit aufreißen? Konntest du ihr das kleineVergnügen nicht gönnen? Du kommst doch auch auf deine Kosten.»
Der Mann in ihrer Wohnung musste Philipp Hardenberg sein, das hätte sie auch früher erkennen können, aber aus der Distanz, und sie hatte ihn ja nur einmal gesehen, als sie hohes Fieber gehabt hatte. Er drängte Nadia zum Aufbruch. «Jetzt fahr endlich los.» Das Letzte, was sie von ihm hörte, war: «Keine Sorge, das übernehme ich. Eine plötzliche Herzattacke werde ich wohl glaubhaft hinbekommen.»
Ohne sich dessen bewusst zu werden, hauchte sie ein halbes Dutzend Mal «Scheiße» in Jasmins Wohnzimmer. Es fiel ihr erst auf, als sich Schritte im Treppenhaus entfernten. Aus dem Fenster zu schauen, wagte sie nicht, man hätte sie vielleicht gesehen. Ungeachtet der Aufforderung stand Nadia immer noch an der Straßenecke. Nach ein paar Minuten tauchte auch Hardenberg wieder auf der Straße auf. Dann verschwanden sie beide.
In ihrem Hirn überschlugen sich Erkenntnisse und Fragen. Was hatte Hardenberg in ihrer Wohnung gesucht? Als Antwort zischte ihr Nadias Drohung durchs Hirn: ein Fingerschnipsen. Wie war er reingekommen? Mit einem Duplikat ihres Schlüssels, den sie letzten Donnerstag aus der Handtasche zu nehmen vergessen hatte. Und Nadia schien nicht nur zu dem Mann vom Flughafen eine besondere Beziehung zu pflegen. Auch Hardenberg musste ihr näher stehen als nur geschäftlich, sonst hätte er sie gewiss nicht blöde Kuh nennen dürfen.
Den Anruf unter der Durchwahl vierundsiebzig ersparte sie sich. Entweder hatte Nadia aus ihren gestrigen wortlosen Versuchen die richtigen Schlüsse gezogen. Oder, und darauf hätte sie das restliche Vermögen ihrer Mutter gewettet, Nadia war über ihren Besuch bei Behringer und Partner informiert worden. Vermutlich wusste Nadia sogar, welchen Gefallender nette Herr Reincke ihr getan hatte. Und um allen Eventualitäten vorzubeugen, hatte Nadia mit einem Finger geschnipst. Herzattacke! Der Ausdruck klirrte wie Eisstücke in ihren Adern. Wäre sie in ihrer Wohnung gewesen – oder zur Telefonzelle gegangen –, dort waren die beiden hergekommen …
Etwa eine Stunde verbrachte sie noch in Jasmins Wohnung. In den ersten zehn Minuten suchte sie aus dem
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