Die Lüge
Hast du Lust, herzukommen? Ich habe eine Überraschung für dich.» Die Entscheidung für eine der beiden Versionen wollte sie erst treffen, wenn sie seine Stimme hörte. Sie traute sich zu, dem Klang nach zu beurteilen, in welcher Stimmung er sich befand.
Auf die Rachepläne folgte der Schock, als nach dem zweiten Freizeichen Nadias «Trenkler» in ihr Ohr stach. Ihr Finger schoss vor und drückte die Gabel nieder. Halb eins! Dass Nadia den Anrufer mit dem harten Akzent schon am Vormittag getroffen hatte, mochte sie nicht in Betracht ziehen. Sie wartete eine halbe Stunde. Dann machte sie den zweiten Versuch. Wieder war Nadia am Apparat. Wieder legte sie wortlos auf. Die Vernunft hätte es geboten, zurück in die eigene Wohnung zu gehen und bis drei oder vier zu warten. Dazu konnte sie sich nicht überwinden, goss lieber Jasmins Pflanzen, wischte auch ein bisschen Staub. Bis um zwei hielt sie durch, nervös, hungrig und fröstelnd. Dann unternahm sie den dritten Versuch.
Wieder nahm Nadia ihren Anruf entgegen. Inzwischen klang auch Nadia nervös. «Hallo?», drängte sie. «Melden Sie sich doch!»
Sie wollte erneut auflegen, da hörte sie im Hintergrund seine Stimme: «Ist das wieder der Witzbold, Schatz?»
«Ich weiß es nicht», sagte Nadia.
«Gib her», verlangte er. Und in der nächsten Sekunde sprach er direkt zu ihr: «Sie haben noch genau zwei Sekunden, um Ihr Anliegen vorzubringen. Dann lege ich auf, undabheben wird danach niemand mehr. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, aus.»
Ehe sie sich auch nur räuspern konnte, war die Leitung tot. Schatz, hallte es wie ein grausames Echo in ihrem Hirn wider. Nun, es ging auch anders. Sie konnte ihm einen Brief ins Labor schicken. Ungesehen gelangte sie zurück in ihre Wohnung und verbrachte den Rest des Tages mit Entwürfen. Ihr Bewerbungsblock wurde dünn und dünner, kein Satz war gut genug für ihn. Es gab schließlich Dinge, die man einem Menschen nur von Angesicht zu Angesicht sagen durfte. Und endlich kam ihr der Gedanke an die Telefonauskunft. Im Treppenhaus war es dunkel. Sie verzichtete darauf, das Licht einzuschalten, ließ nur ihre Tür offen. Als sie Jasmin Topplers Tür wenig später wieder von außen verschloss, war sie einigermaßen zufrieden.
Viel Schlaf fand sie nicht in der Nacht zum Mittwoch, schreckte immer wieder aus wüsten Träumen auf, bis ein Frühzug sie endgültig zurückholte in die graue Wirklichkeit. Sie warf einen Blick auf den Wecker. Sechs Uhr! Jetzt stand Michael auf, ging unter die Dusche. Er frühstückte nicht. Sie kuschelte sich in ihre Decke und folgte ihm im Geist durch die weiße Pracht zum Jaguar. Nach gut einer Stunde beschied sie, er sei jetzt im Labor, stand auf, ging unter die Dusche, zog sich an und schlich erneut zur Nachbartür.
Jasmins Wohnung lag wie die von Heller zur Straße hin. Das Telefon stand auf einem kleinen Tisch direkt unter dem Wohnzimmerfenster. Die Straße war aus dem dritten Stock nur zu sehen, wenn man sich aus dem Fenster lehnte. Aber die Straßenecke, hinter der die Telefonzelle lag, sah man auch, wenn man an dem Tisch stand.
Sie wählte die Nummer, die sie am Abend von der Auskunft erfragt hatte, und war mit der Zentrale verbunden. EinPförtner hörte sich ihre Bitte an und sagte knapp: «Ich verbinde.» Aus dem Hörer drang eine Melodie, hin und wieder unterbrochen von einer sanften Frauenstimme: «Please, hold the line. Haben Sie bitte einen Augenblick Geduld.»
Sehr geduldig war sie nicht. Das Gedudel zerrte an ihren Nerven. Ihre Augen irrten zur Straßenecke. Wieder bat die sanfte Frauenstimme um einen Augenblick, wurde vor der Geduld unterbrochen von der sachlichen Stimme des Pförtners, der sich erneut nach ihren Wünschen erkundigte. Sie bat noch einmal, mit Michael Trenkler verbunden zu werden, und wies darauf hin, dass sie schon seit geraumer Zeit auf diese Verbindung wartete.
«Ich verbinde», sagte der Pförtner nur, und wieder erklang die Melodie. An der Straßenecke erschien ein mittelgroßer, dicker Mann und blieb stehen. Sie achtete nicht darauf, trommelte ihre Ungeduld mit den Fingern auf Jasmins kleines Tischchen. Allmählich begann sie, sich Sorgen um die Telefongebühren zu machen. Für den Fall, dass Jasmin sich über die Rechnung wunderte, war es wohl ratsam, dem mit einem Geldschein und einer Erklärung vorzubeugen. «Ich musste dringend telefonieren, und die Zelle war mal wieder demoliert.»
Das denken und dabei automatisch wieder zur Straßenecke schauen war eins.
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