Die Lüge
durfte sie auch gar nicht riskieren, das war ihr sehr wohl bewusst.
Um neun war das Essen teilweise verbrutzelt. Sie aß alleine und wählte Matjesfilets in Sahnesoße zum Dessert. Danach gönnte sie sich noch ein Stück Eissplittertorte und einen Espresso, weil sie müde war und nicht verschlafen wollte, wenn er endlich kam. Um zehn machte sie es sich vor dem Fernseher bequem. Die Tür zum oberen Flur ließ sie offen, trank noch einen zweiten Espresso. Und trotzdem glitt sie langsam tiefer auf der Couch. Dieser Donnerstag war – nach einer fast schlaflosen Nacht – ein langer, hektischer und sehr aufregender Tag gewesen. Schließlich streckte sie sich aus und tauchte ein in den sanft wallenden Nebel des ersten Schlummers.
Es wurde elf, es wurde zwölf, aus dem leichten Schlummer wurde ein fester Schlaf. Sie hatte kein Licht angemacht. Die wechselnden Filmsequenzen tauchten das Zimmer in graublaues Flackern. Über den Bildschirm flimmerte inzwischen ein blutrünstiger Horrorschocker, der zum größten Teil auf einem nächtlichen Friedhof spielte. In das Schmatzen und Schnaufen der Bestien und das Schreien der gequälten Opfer mischten sich andere Laute, die sie unbewusst registrierte, die sich jedoch so vollkommen in die Geräuschkulisse einfügten, dass sie ihr nicht zurück an die Oberfläche halfen.
Das Brechen von Knochen passte zum Zuschnappen der Zentralverriegelung, als die Alarmanlage eingeschaltet wurde. Das Surren der Rollläden war fast identisch mit dem Schlurfen der Untoten. Die Schritte auf der Treppe vermischten sich mit denen, die aus dem Fernsehlautsprecher drangen.Ein Bewegungsmelder aktivierte die Beleuchtung auf dem oberen Flur. Der Lichtschein fiel durch die offene Tür auf ihr Gesicht und störte hinter den geschlossenen Lidern. Gleichzeitig kreischte im Fernseher eine Frau anhaltend um ihr Leben. Davon erwachte sie vollends, blinzelte benommen und sah das Licht.
«Michael?», rief sie. Antwort bekam sie nicht, richtete sich auf und horchte. Außer der nervtötenden Geräuschkulisse aus dem Fernseher war nichts zu hören. Sie schaltete das Gerät ab. Alles war still, das Licht auf dem Flur erlosch wieder. Das Zimmer versank in völliger Dunkelheit. Sie spürte den schalen Geschmack des Schlafes im Mund. «Michael?», rief sie noch einmal.
Wieder kam keine Antwort. Auch sonst war nichts zu hören. Mit einem tiefen Seufzer stemmte sie sich hoch und tastete sich zur Tür. Sofort war der Flur wieder beleuchtet. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, dahinter war es dunkel. Und still! Im ganzen Haus war es still. Und da sie nicht genau wusste, was sie geweckt hatte, gelangte sie zu der Überzeugung, alleine zu sein. Für das Licht mochte es tausend technische Erklärungen geben.
Sie stieg hinunter, sprach auf der Treppe ein paar Worte zu ihrem Baby, trank in der Küche ein halbes Glas Mineralwasser, um den schalen Geschmack fortzuspülen. Und wieder hinauf. Und nun drang schwacher Lichtschein aus dem Schlafzimmer.
«Michael?», rief sie erneut.
Auch diesmal gab er keine Antwort. Langsam ging sie auf die Tür zu. Das Schlafzimmer war nicht beleuchtet. Der Lichtschein fiel aus dem Bad. Dicke Luft, dachte sie, verdammt dicke Luft.
Er stand nackt vor einem der Waschtische und putzte sich die Zähne. Für sie hatte er keinen Blick, obwohl sie fast eineMinute reglos bei der Tür verharrte, ihn anschaute und versuchte, das Chaos im Innern zu bewältigen. Endlich schaltete er die Zahnbürste aus, kam auf sie zu, als sei sie nicht vorhanden, ging an ihr vorbei zum Bett und entfernte den Überwurf nur von seiner Hälfte.
«Warum antwortest du nicht?», fragte sie.
Keine Reaktion. Er ging ins Ankleidezimmer. Sie folgte ihm, schaute zu, wie er Kleidung und seinen Wecker aus den Schrankfächern nahm. Ohne sie zu beachten, ging er zurück ins Schlafzimmer und brachte die Sachen ins Bad. Wieder folgte sie ihm. Er stellte den Wecker ins Bodenregal, ging zurück ins Schlafzimmer. Erst als er das Bett erreichte, wollte er wissen: «Warum hast du angerufen?»
«Ich wollte nur wissen, wann du heimkommst. Hat man dir das nicht ausgerichtet?»
Er setzte sich aufs Bett. «Doch. Ich konnte nur nicht glauben, dass dich das ernsthaft interessiert. Ich dachte, es müsste einen besonderen Grund geben. Dass vielleicht das Haus abgebrannt oder dir der Sprit ausgegangen ist.»
Das klang nicht so, als vermute er, betrogen zu werden, eher so, als befürchte er, Nadia habe wieder zu trinken angefangen. «Habt ihr das
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