Die Lüge
verräterische Band war jedoch übersprochen, der beschmierte und versengte Brief an Jacques, mon chéri, aus dem Schrank im Fernsehzimmer verschwunden. Nun ja, wenn Michael misstrauisch geworden war, hatte Nadia wohl aufräumen müssen.
Das Telefon auf dem Schreibtisch war ausgezogen, der Anrufbeantworter eingeschaltet. Sie rief vom Schlafzimmer aus in der Confiserie an und teilte Frau Schädlich mit, ihre Mutter sei noch nicht aus der Narkose erwacht, und sie möchte warten, bis sie zu sich käme. Heute schaffe sie es also nicht mehr, zurück ins Geschäft zu kommen.
«Das habe ich mir schon gedacht», sagte Frau Schädlich.«Meinen Sie denn, dass Sie morgen kommen können? Sie wissen ja, was freitags los ist.»
«Natürlich», sagte sie. «Morgen komme ich auf jeden Fall.»
Dann ging sie erst mal hinunter in den Vorratsraum, stellte sich ein spätes Mittagessen zusammen und entschied sich in einer nostalgischen Anwandlung für Schweineschnitzel mit Champignons, Zwiebeln, Spargel und grünen Bohnen. Und als sie in der Küche stand, wartete sie fast auf Joachim Kogler. Aber es kam niemand. Der aromatische Duft aus Pfanne und Töpfen weckte einen unbändigen Appetit. Sie schlang ihre Mahlzeit mit Heißhunger hinunter, genehmigte sich zum Dessert ein großes Stück Eissplittertorte aus einem der Gefrierschränke und dazu einen starken Kaffee. Kurz vor fünf war die Küche wieder aufgeräumt.
Beim Zähneputzen überlegte sie, im Labor anzurufen und sich zu erkundigen, wann Michael heimkäme. Allein der Gedanke, ihn wieder zu sehen, verursachte ein Flattern in der Herzgrube. Mit einer ungefähren Zeitangabe könne sie sich besser auf sein Erscheinen einstellen, meinte sie, ging erneut nach oben und wählte mit der Durchwahl achtunddreißig.
Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine hektische Frauenstimme und schimpfte los: «Wo bleibst du denn? Der Schredder ist bei zweihundertzwanzig. Ich brauche dich hier, sofort!»
«Guten Tag», sagte sie freundlich. «Hier ist Nadia Trenkler. Ich möchte meinen Mann sprechen.»
«Das möchte ich auch», erklärte die Frau. «Aber der ist noch in einer Besprechung.»
«Vielleicht können Sie mir sagen, ob es heute sehr spät wird?»
«Später als spät. Wir haben ein Riesenproblem mit einem Probanden. Darum muss er sich persönlich kümmern.»
«Ah ja», sagte sie. «Danke, dann weiß ich Bescheid.»
Es schien, dass wieder etwas Technisches kaputtgegangen oder kurz davor war, den Geist aufzugeben. Der Schredder, das klang nach einer Maschine, die sie eher auf dem Kleinlaster der Gärtnerei vor Niedenhoffs Grundstück vermutet hätte. Aber wer wusste schon, was in einem Labor so alles herumstand?
Sie legte auf, ging wieder hinunter, klimperte ein wenig auf dem Flügel, schlenderte an den Kunstwerken vorbei und versuchte, den Beckmann zu identifizieren. Bei den meisten Bildern war die Signatur unleserlich. Nur auf dem schwarzgoldenen Machwerk über der Sitzgruppe meinte sie den Namenszug Georg Maiwald zu entziffern und erinnerte sich an Michaels Bemerkung über das Engagement für junge Künstler, bei der auch der Ausdruck Schinken gefallen war. Er schien in puncto Kunst einen ähnlichen Geschmack zu haben wie sie – und nicht nur darin.
Draußen war es bereits dunkel, als sie sich ein Handtuch holte und hinunter in den Keller ging. Im Hinterkopf tickte Nadias Hinweis, im Pool sei er einsame Spitze. Natürlich wollte sie das nicht ausprobieren, bestimmt nicht an diesem Abend. Später vielleicht einmal, wenn ihr Kind auf der Welt war und sie schwimmen gelernt hatte. Sie zog sich aus, setzte sich auf den Rand des Pools und ließ die Beine im Wasser baumeln. Nach einer Weile ließ sie sich vorsichtig ins Becken hinunter, hielt sich mit beiden Händen am Überlauf, bis sie Boden unter den Zehenspitzen spürte. Das Wasser reichte ihr bis zur Kehle und war unangenehm kühl. Fröstelnd wagte sie es, die Hände zu lösen, bewegte die Arme wie eine Schwimmerin, ohne sich vom Fleck zu rühren.
Gegen acht probierte sie einen zweiten Anruf im Labor. Es wurde nicht abgehoben. Das veranlasste sie zu der Vermutung, Michael sei auf dem Heimweg. Sie machte sich an dieZubereitung einer weiteren üppigen Mahlzeit und deckte den Tisch im Esszimmer für zwei Personen. Nadia hatte zwar von ziemlichem Stress gesprochen. Aber nach der «Höllenszene» vom Probesonntag im August war er noch ganz umgänglich gewesen. Eine nette, kleine Unterhaltung beim Essen, mehr wollte sie nicht. Mehr
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