Die Luft, die du atmest
Ampel wurde grün, und er fuhr an. Er würde noch einmal am Supermarkt vorbeischauen. Nach diesem ganzen Theater konnte er nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Lieber noch ein bisschen länger ausbleiben und dafür Babynahrung mitbringen. Die Autouhr zeigte 8.23 an. Er war seit mehr als drei Stunden unterwegs. Ein Blick auf die Tankanzeige machte ihm klar, dass der Tank nur noch ein Viertel voll war. Nach dem Einkaufen würde er noch zu der Tankstelle fahren, die vorhin geöffnet war. Vielleicht waren die Schlangen kürzer geworden. Wie dumm, dass er Ann nicht anrufen konnte, um ihr Bescheid zu sagen. Hoffentlich war zu Hause alles in Ordnung.
Der Laden war nur noch ungefähr eine Meile entfernt.
Die Scheiben wurden allmählich wieder klar. Im Scheinwerferlicht tauchte plötzlich eine Gestalt vor ihm auf.
Was zum Teufel?
Peter stieg auf die Bremse. Die Reifen quietschten. Der Pickup schlingerte. Seine Scheinwerfer beschienen den Bürgersteig, ein paar Beine. Er umklammerte das Lenkrad. Endlich kam der Pick-up zum Stehen. Er starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Er hatte keinerlei Aufprall gespürt. Wo war der Mann hin? War er irgendwie unter den Pick-up gerutscht? Peter schaute aus dem Seitenfenster. Da stand ein Mann im Regen, ein Mann in dunklen Sachen, die blassen Hände in die Taschen gestopft.
Der Mann trat an sein Fenster. Er hatte seine Kapuze tief in die Stirn gezogen, sodass seine Augen nicht zu sehen waren.Warum schlenderte er so lässig? War ihm nicht klar, dass er beinahe überfahren worden war? Peter kurbelte die Scheibe herunter. Wasser tropfte herein.
«Herrje. Ich hätte Sie beinahe erwischt.»
Der Fremde hob das Kinn. Peter sah einen weichen Mund, eine weiche Nase, zarten Bartwuchs. Das war kein Mann. Eher noch ein Kind. Ein Halbstarker. «Steig aus.»
«Was?»
«Los, Mann.»
Peter sah ihn ungläubig an. Wollte er sein Auto kidnappen?
«Na los, mach schon.»
Der Junge wippte auf den Zehen. War er high? Jetzt tauchten hinter ihm zwei weitere Gestalten auf, schattenhaft, drohend.
Peter schüttelte den Kopf und begann die Scheibe hochzukurbeln. Er hatte keine Zeit für so was.
«Auf geht’s, Alter.» Die Stimme des Jungen war jetzt scharf.
Die Beifahrertür ging auf. Bevor Peter reagieren konnte, beugte sich ein Junge über den Sitz. Links von ihm klickte es leise. Peter guckte aus dem Fenster. Der erste Junge hielt ein Springmesser in der Hand.
Heute Abend war sich offensichtlich jeder selbst der Nächste.
Peter beugte sich zu dem Jungen hinüber. Wie aus Höflichkeit beugte sich auch der Junge näher zu ihm über den Sitz.
«Scheißkerl», sagte Peter.
Der Junge blinzelte. Dann hustete er. Es war ein tiefer, schleimiger Husten, der ihn so erschütterte, dass er sich den Bauch halten musste.
Über Peters Gesicht ergoss sich ein Sprühregen. Erschrocken wich er zurück.
Der Junge richtete sich auf, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Und griente.
SECHSUNDDREISSIG
Ann blieb am Eingang stehen, und die Lichter wurden größer.
Peter?
Aber sie wusste schon, dass er es nicht sein konnte. Die Scheinwerfer waren zu oval und zu weit auseinander. Da fuhr der Wagen auch schon vorbei. Es war jemand anders, der nach Hause zu seiner wartenden Familie fuhr.
Sie drehte sich um und wollte die Tür aufmachen. Im schwindenden Licht fiel ihr Blick auf ein mehrfach gefaltetes Blatt Papier, das an der Tür klebte. Ein Brief. Sie pellte den Tesafilm ab und versuchte, ihn zu entziffern. Aber es war zu dunkel. Dann durchfuhr sie ein Schreck. Die Mädchen! Sie waren in der plötzlichen Finsternis allein. Maddie hatte bestimmt schon Angst.
Sie riss die Tür auf und trat in den dunklen Flur. «Maddie? Kate?»
«Hier sind wir», rief Kate.
Ihre Stimme klang ruhig. Aus dem Zimmer drang ein schwacher Lichtschein.
Er kam von einer Kerze auf dem Kamin. Eine zweite brannte auf dem Sideboard. Und die Mädchen saßen mit Jacob auf dem Fußboden.
«Guck mal, Mom», sagte Maddie. «Jacob ist aufgewacht. Er versucht zu krabbeln.»
Das Baby hatte sich auf Hände und Knie erhoben und schaukelte vor und zurück.
«Bist du ein großer Junge?», gurrte Maddie. «Bist du der große, große Jakey?»
Ann schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht glauben, was sie da sah.
«Hast du Shazia gefunden?», fragte Kate.
«Nein.» Ann ließ sich gegen die Wand sinken. Auf ihre erste Erleichterung folgte ein Gefühl von Trauer. Ihre beiden kleinen Mädchen. Da saßen sie und waren gezwungenermaßen
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