Die Luft, die du atmest
Schlangen waren. Es würde gut sein zu wissen, was da draußen los war. Wenn sie ihn doch bloß anrufen könnte. Seine Stimme hören. Wie einfach früher alles gewesen war – einfach zum Handy greifen und ein paar Knöpfe drücken.
Jacobs Arm rutschte weg. Er hatte aufgehört zu nuckeln. Sie hielt die Flasche hoch, um zu sehen, wie viel noch drin war. Er hatte sie halb ausgetrunken. Vom Schreien erschöpft, war er eingeschlafen, bevor er auch nur annähernd gesättigt war. «Mach den Fernseher leiser», forderte Ann Maddie auf. «Das Baby schläft.»
Sie legte ihn auf dem Deckenhaufen ab, hockte sich dazu und legte ihm eine Hand auf den Kopf. Wie lange würde das Zuckerwasser vorhalten?
«Kate.» Ann ging zu ihr an den Küchentisch. «Zeig mir mal, wie chatten geht.»
Kate sah sie stirnrunzelnd an. Sie hatte geduscht, und ihre Haut war rosig, das nasse Haar glatt aus dem Gesicht gekämmt. «Wieso?»
«Ich will mit anderen Eltern reden.» Sie hatten zwar Strom, aber das Telefon funktionierte immer noch nicht.
«Mom.»
«Bloß einen Augenblick.» Ann nahm sich einen Stuhl.
Kate seufzte laut. «Moment.» Sie drückte auf die Maus, und ein Rechteck erschien. Sie tippte
POS
ein und drückte Enter. «Mit wem denn?»
Die Abkürzung kannte Ann:
Parent Over Shoulder.
Achtung, Elternteil liest mit. «Kannst du Claire fragen, ob ihre Mutter oder ihr Vater Zeit hat?»
Kate tippte schnell. Ann las die Antwort.
BRB
.
Be right back.
Der Cursor blinkte. Ann las:
Mein Onkel ist hier
.
Kate fragte: «Ist das okay?»
«Klar.» Ann kannte den Mann nicht, aber das war ihr gleich. «Frag ihn, ob er von Läden weiß, die geöffnet haben.»
Kate tippte. Ein Moment verging. Dann erschienen die Antworten. Sie lasen gemeinsam.
Keine Ahnung. Telefon nur stellenweise. 70 und 75 gesperrt. Ab 21 Uhr in der ganzen Stadt Ausgangssperre.
Woher wusste er das alles? «Frag ihn –»
«Kannst du nicht auf deinem Rechner weitermachen?»
«Sicher, aber du bist die Einzige, die weiß, wie es geht.»
«Shazia kann das auch. Sie kann es dir zeigen.»
Das stimmte. Shazia war duschen gegangen, nachdem Peter losgefahren war. Sie musste längst fertig sein. Ann lauschte, ob sie noch Wasser rauschen hörte, aber die Leitungen waren still. Sie schob ihren Stuhl zurück. «Weiß eine von euch, wo sie ist?»
«Weg», sagte Maddie.
Ann sah sie an. Maddie saß vor dem Fernseher und spielte mit den Knöpfen. «Was?»
«Sie ist weg.»
«Lass Jacob schlafen. Komm her.»
Das Baby murmelte, als Madeline aufstand. Sie kam zu Ann und Kate. «Sie ist rausgegangen.»
Raus? Um vor der Tür Luft zu schnappen? Oder in den Briefkasten zu gucken? Nein, draußen regnete es in Strömen. Aber vielleicht wollte sie bloß mal ein paar Minuten allein sein. «Wann war das?»
«Als du mit Jacob beschäftigt warst. Sie hat Wiedersehen gesagt und ist gegangen.»
Kate zog ihren Laptop zu sich herüber. «Zu mir auch, Mom.»
Wenn sie nur kurz auf die Terrasse oder in den Garten gegangen wäre, hätte sie sich nicht verabschiedet. Ann trat schnell hinaus auf den kalten nassen Beton vor der Haustür. Shazia war nicht da. Ann sah sich um: nichts als leere Straßen, die unter den Laternen glänzten.
Shazias Bett war gemacht. An der Wand stand ein blauer Koffer. Sie hatte zwei gehabt. Wo war der andere? Ann suchte im Schrank und unter dem Bett. Auf dem Nachtschrank lag ein Bilderrahmen mit dem Rücken nach oben inmitten von Glasscherben. Als Ann ihn umdrehte, entdeckte sie einen kleinen Haufen zerrissener Fotos. Das Bild von Shazias Eltern. Ihre Mutter blickte Ann vorwurfsvoll von einem der kleinen Fetzen an.
Im Gästebad war ein Regalbrett leergeräumt und die Zahnbürste mitsamt der Zahnpasta verschwunden. Ann war die ausländische Marke aufgefallen, und sie hatte sich gefragt, welche Geschmacksrichtung das kleine gelbe Blatt auf der Tube anzeigte. Hinten auf dem Brett lag das kleine Thermometer, das aus der Hausapotheke verschwunden war. Warum hatte Shazia ihre Temperatur gemessen?
Ann lief hinunter in den Hobbyraum. Shazias Laptop stand nicht mehr auf dem Schreibtisch. In der Garderobe fehlte ihr langer Mantel.
«Ihr zwei», rief Ann. «Was genau hat Shazia gesagt?»
«Das haben wir dir doch schon erzählt. Sie hat auf Wiedersehen gesagt. Ach so, und danke.»
Auf Wiedersehen und danke. Was konnte das sonst heißen? «Sie hat nicht gesagt, wohin sie wollte?»
«Nein.»
Aber sie hatte MapQuest aufgerufen.
«Ich bin gleich wieder da», sagte Ann, und
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