Die Luft, die du atmest
umklammerte sie den Griff. Sie zerrten in entgegengesetzte Richtungen.
«Lassen Sie los», sagte Ann. «Sind Sie verrückt geworden?»
«Joan», schrie er.
In der Videothek war außer ihnen niemand. Keiner hatte heute vor, sich Videos auszuleihen. Er war jünger und stärker als sie, und er entzog ihr langsam, aber sicher den Griff ihres Wagens.
«Joan! Komm her!»
Gott sei Dank. Jemand kam ihr zu Hilfe. Eine Frau rannte durch den Gang auf sie zu, und ihr Einkaufswagen sauste vor ihr her. Langes blondiertes Haar, schwarzes Leder, ihre Absätze klackerten über den PV C-Boden .
Ann lächelte.
Die Frau schoss ihr einen bösen Blick zu, unter dick aufgemalten, ärgerlich gerunzelten Augenbrauen. «Sauber, Kenny.» Sie langte in Anns Wagen, nahm sich eine Wasserflasche und warf sie in ihren eigenen Wagen. «Brot ist alle», sagte sie zu dem Mann.
«Milch auch.»
Ann traute ihren Augen und Ohren nicht. Unwillkürlichschlug sie nach der Hand der Frau, als sie die nächste Wasserflasche nehmen wollte. «Was machen Sie da? Holen Sie sich selbst was.»
Die Frau schlug zurück. «Sie haben noch nicht bezahlt. Also gehört es Ihnen nicht.» Mit einem Ruck zog sie Anns Wagen zu sich heran.
«Da hinten ist noch mehr.» Ann riss den Wagen an sich und stellte sich schützend davor.
«Da gehen wir nicht hin», blaffte Joan. Sie trat auf Ann zu.
Ann stellte sich ihr entgegen. Wütend funkelten sie sich an.
«Dumme Ziege, hau ab.» Die Frau gab Ann einen Schubs.
Ann schubste zurück. Darauf holte Joan mit der Faust aus und schlug Ann gegen die Brust.
Ann taumelte keuchend zurück. Ihre Hände schlossen sich zu Fäusten. Doch dann fing sie sich. Wasser. Sie schlugen sich um Wasser.
Hinter ihr sagte Kenny: «Wir sind hier fertig. Los jetzt, zur Tiefkühlkost.»
Ann drehte sich um. Ihr Wagen war leer. Kenny hatte alles umgeladen und schnappte sich seinen nun mit Wasserflaschen beladenen Wagen. Joan holte weit aus und gab Anns leerem Wagen einen letzten Stoß. Er prallte gegen Anns Schienbein.
Einen Augenblick wurde ihr schwarz vor Augen.
Dann sah Ann, wie Kenny und Joan, schon weit von ihr entfernt, sich aus einem anderen Wagen eine große Packung Toilettenpapier angelten. Ihr Opfer, wie sie eine einzelne Frau, hatte ebenfalls keine Chance gegen die beiden.
Ann hätte nicht gedacht, dass man sich beim Einkaufen aus Sicherheitsgründen zu zweit zusammentun musste. Darauf wäre sie im Leben nicht gekommen.
NEUN
Peter ging hinter Shazia durch den in übertrieben fröhlichen Farben gestrichenen Flur des Studentenheims. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Peter trat beiseite, um einen älteren Herrn vorbeizulassen, der einen großen Karton trug.
«Hast du alles?», fragte der Mann das schlanke braunhaarige Mädchen, das ihm auf den Fersen folgte.
«Ich habe meinen Laptop, Dad. Mehr brauch ich nicht.»
Shazia blieb vor ihrem Zimmer stehen. An der Tür klebte ein Zettel. Sie riss ihn ab, faltete ihn auseinander und überflog den Inhalt. «Caroline ist schon weg.»
Peter kannte Shazias Zimmergenossin, eine sehr bestimmt auftretende, große junge Frau aus Südafrika, die ein Wunderkind in der Nanotechnologie zu sein schien. «Wohin?»
«Sie soll sich auch im Tower West melden.»
Gut. Vielleicht wurden sie wieder zusammen untergebracht. Das würde ihnen die Umstellung erleichtern.
Shazia zog ihre Schlüsselkarte durch den Kartenleser und stieß die Tür auf. Sie traten in ein kleines quadratisches Zimmer, das mit den üblichen zerkratzten Eichenmöbeln vollgestellt war, jeweils in doppelter Ausführung, zwei Betten, zwei Kommoden, zwei Schreibtische. Sie brauchte nicht lange, um ihre Sachen zusammenzulegen und in einen Koffer zu packen. Bevor sie ihn zumachte, verstaute sie noch ein paar gerahmteFotos zwischen den Pullovern. In einen zweiten Koffer kamen Handtücher und ihre persönlichen Dinge.
Traurig, dieser plötzliche Abschied.
Sie richtete sich auf und sah sich um. «Ich glaube, das ist alles.»
Tower West war nicht weit.
Das Hochhaus war hellerleuchtet. Am Straßenrand standen Busse mit laufenden Motoren. Menschen eilten über den hellerleuchteten Vorplatz. Peter parkte den Pick-up am Ende einer Autoreihe auf dem Rasen. Der Sicherheitsdienst würde heute Abend niemanden aufschreiben.
Durch das Foyer wanden sich lange Schlangen, die zu drei Tischen vor den Fahrstühlen führten. Ein uniformierter Wachmann stand mit verschränkten Armen daneben und passte auf.
Peter und Shazia stellten sich an. Als
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