Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die du atmest

Die Luft, die du atmest

Titel: Die Luft, die du atmest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carla Buckley
Vom Netzwerk:
SeineAugen gewöhnten sich an das Dunkel, sodass er sie in Ruhe betrachten konnte, die runden Wangen und die Schlafaugen, die ihn so an Ann erinnerten. Sie hatte schon wieder einen Zahn verloren, einen Backenzahn unten. Was die Zahnfee inzwischen wohl brachte? Früher bei Kate waren es fünf Dollar. Einmal, da war Kate sieben, konnten sie im Haus nicht genug Scheine finden, um sie ihr unters Kissen zu legen. Da hatte er triumphierend einen Geschenkgutschein aus dem Baumarkt gezückt. Sie hatten viel gelacht, damals. Später umso weniger, als wäre nichts mehr davon übrig geblieben.
    Maddie sagte: «Meine Lehrerin hat gesagt, die Vögel machen Menschen krank.»
    «Mm-hm.»
    Sie runzelte die Stirn. «Du hast dauernd mit Vögeln zu tun.»
    «Ja, das stimmt. Aber ich trage einen Schutzanzug. Wusstest du das?»
    «Wie Supermann?»
    «Nein. Ich trage eine Maske und eine Brille, damit ich mich nicht anstecke, und Handschuhe, damit meine Hände geschützt sind. Und über meine Kleidung ziehe ich einen weißen Anzug.»
    «Und die Sachen hast du immer an?»
    «Ja, klar. Immer wenn ich im Freien arbeite. Ich habe die Sachen immer im Pick-up.»
    «Brauchen wir auch Schutzanzüge? Kate, Mom und ich?»
    «Nein, ich denke nicht.» Er strich ihr die Haare aus der Stirn. «Müde bin ich, geh zur Ruh   –»
    «Schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.» Maddie gähnte und sah ihn lächelnd an.
    Er küsste sie auf die Wange, sie war weich und warm. Das hatte ihm gefehlt. «Gute Nacht, meine kleine Maddie.»
    Er war schon an der Tür, als sie noch einmal nach ihm rief.
    «Dad?»
    «Mm-hm.»
    «Mom und du, wollt ihr euch immer noch scheiden lassen?»
    Arme Maddie. Das alles musste schrecklich verwirrend für sie sein. «Ja, mein Schatz», sagte er sanft. «Das ist nun mal so.»
    Kate saß in ihrem stockdunklen Zimmer in einem Berg aus Decken am Kopfende ihres Betts und wartete schon auf ihn. «Hey», sagte sie, als er sich auf die Kante sinken ließ.
    Er beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf. «Hey. Räumst du hier eigentlich jemals auf?»
    «Nur wenn Mom droht, dass sie mir sonst mein Handy wegnimmt.»
    Sie hatte sich wieder parfümiert, der süße Duft mischte sich mit dem Fruchtaroma ihres Haarwaschmittels und der Minze ihrer Zahnpasta. Er erinnerte sich noch gut an die Zeiten, als sich Kate sehr lange bitten ließ, bis sie endlich badete. Als sie sechs war, mussten sie danebenstehen, damit sie überhaupt die Zähne putzte.
    «Wie lange bleibst du?», fragte sie.
    «Ein paar Tage vielleicht. Mal sehen.»
    Sie biss sich auf die Unterlippe. «Die Situation ist wirklich ernst, oder?»
    «Ja.»
    «Die Leute sterben daran, stimmt’s?»
    «Ja.»
    «Kennst du jemanden, der gestorben ist?»
    Er dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. «Nicht, dass ich wüsste, Schatz. Auf jeden Fall niemanden von hier.»
    «Werden wir sterben?»
    Er nahm ihre abgewetzte Stoffeule in die Hand, deren Schnabel nur noch an wenigen Fäden hing. Die hatte er seit Jahren nicht gesehen. Kate beugte sich vor, und er legte sie ihr hinter den Kopf. Wie seine Tochter ohne Kissen schlafen konnte, war ihm ein Rätsel, aber sie beschwerte sich nie über Nackenschmerzen. «Ich weiß, dass es so aussieht, als wäre das alles ganz plötzlich gekommen. Aber die Wissenschaftler und Behörden setzen sich schon lange mit dem Problem auseinander. Wir wussten, dass es so kommen würde. Wir wussten bloß nicht, wann. Wir haben jede Menge Pläne in der Tasche und können Vorkehrungen treffen, um uns zu schützen.»
    «Zum Beispiel, indem die Schulen zugemacht werden?»
    «Genau. Das ist eine sehr kluge Vorsichtsmaßnahme. Wenn wir es schaffen, dass die Leute sich nicht gegenseitig anstecken, haben die Wissenschaftler Zeit, einen Impfstoff zu entwickeln.»
    «Dann kriegt man eine Spritze.» Sie zog eine Grimasse.
    Wenn es doch bloß so einfach wäre.
    «Freu dich», sagte er und erhob sich. «Du hast morgen frei, du kannst nach Herzenslust chatten.»
    «Chatten ist out, Dad.»
    «Ach so?»
    «Wir simsen jetzt.»
    «Aha.» Es fehlte ihm furchtbar, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Dass Maddie einen Zahn verloren hatte, Kate nicht mehr ihren alten Rucksack, sondern eine neue Stofftasche trug, dass sie ihre Milch nicht mehr mit Schokoladensirup tranken. Von alledem bekam er nichts mit. Die nächsten Tage würden ein unerwartetes Geschenk für ihn sein, eine Gelegenheit, den Kontakt zu seinen Kindern aufzufrischen.

Weitere Kostenlose Bücher