Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
von einem Gegenmittel war die Rede, aber dennoch ließ sich die Sache nicht aufklären. Der Junge stand jetzt unter der Aufsicht des königlichen Forschungsteams, und das hieß, dass Dr. Erland ein neues Versuchskaninchen zum Spielen hatte. Sie hoffte, dass ihm das ausreichte und sie als Freiwillige ausgedient hatte. Noch hatte sie sich nicht getraut, dem Arzt ihre Pläne anzuvertrauen, und so hatte sie jeden Morgen ein schlechtes Gewissen, wenn eine neue Überweisung bei ihr einging. Dr. Erland hatte Wort gehalten und ein Konto eingerichtet, das mit Cinders ID verlinkt war und auf das nur sie zugreifen konnte, Adri aber nicht. Darauf hatte er fast täglich etwas aus dem Forschungsfonds eingezahlt. Bisher hatte er sie noch nicht um eine Gegenleistung dafür gebeten. Er hatte ihr per Tele mitgeteilt, dass er ihre Blutproben immer noch nutzte und sie sich unter keinen Umständen dem Palast nähern durfte, solange die Königin dort war.
Cinder runzelte die Stirn. Dr. Erland hatte keine Möglichkeit gehabt, ihr zu erzählen, was an ihr so besonders war. Wo er doch selbst immun war. Die Neugier nagte an ihr, aber ihr Entschluss zu fliehen war stärker als alles andere. Einige Geheimnisse würden wohl nie gelüftet werden.
Sie zog ihren Werkzeugkasten zu sich heran und wühlte darin herum, nur um irgendetwas zu tun zu haben. In den letzten fünf Tagen war ihr so langweilig gewesen, dass sie all ihre Bolzen und Schrauben penibel sortiert hatte. Jetzt hatte sie sich aufs Zählen verlegt und speicherte eine digitale Inventur im Gehirn ab.
Ein Mädchen mit seidigen schwarzen Zöpfen tauchte vor ihrer Werkbank auf. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und schob ihr einen Portscreen über den Tisch, »können Sie den reparieren?«
Cinder sah gelangweilt vom Kind zum Portscreen. Er war so klein wie ihre Hand und steckte in einer glitzernden rosa Hülle. Seufzend nahm sie ihn hoch und drückte auf den Knopf, aber auf dem Schirm erschienen nur unverständliche Zeichen. Cinder schlug den Port zweimal mit der Ecke auf den Tisch. Das Mädchen erschrak.
Cinder drückte noch mal auf den Knopf. Vom Schirm strahlte sie ein Willkommen an.
»Das klappt manchmal«, sagte sie und warf ihn dem Mädchen zu, das ihn im Sprung auffing. Ihre Augen leuchteten, und als sie lächelte, enthüllte sie eine Zahnlücke. Dann war sie in der Menge verschwunden.
Cinder legte das Kinn auf die Unterarme und wünschte sich zum tausendsten Mal, dass Iko nicht in diesem winzigen Metallstückchen eingeschlossen wäre. Sie hätten sich über die Standinhaber mit den verschwitzten Gesichtern lustig gemacht, wie sie sich unter den Markisen Luft zufächelten. Und sich über all die Orte unterhalten, die sie sich ansehen wollten – das Taj Mahal, das Mittelmeer, die transatlantische Magnetschwebebahn. Iko wollte so gerne zum Shoppen nach Paris.
Cinder schauderte und vergrub das Gesicht in der Ellenbeuge. Wie lange würden ihr diese Gedanken wohl noch zu schaffen machen?
»Geht es dir nicht gut?«
Sie erschrak und sah hoch. Kai lehnte an einer Ecke ihres Stands, mit einem Arm stützte er sich an der Stahlführung der Tür ab, den anderen hielt er so hinterm Rücken, dass sie ihn nicht sehen konnte. Er hatte zur Tarnung wieder das graue Sweatshirt an und die Kapuze aufgesetzt, aber selbst in der drückenden Hitze gelang es ihm irgendwie, vollkommen gelassen zu wirken. Das Haar zerzaust, die helle Sonne hinter ihm – Cinder wurde warm ums Herz, bevor sie sich wieder im Griff hatte.
Sie machte sich nicht die Mühe aufzustehen, aber zog geistesabwesend ihr Hosenbein herunter, um so viele Drähte wie möglich zu verdecken, und wieder war sie froh über das dünne Tischtuch. »Eure Hoheit.«
»Also, ich will dir ja nicht vorschreiben, wie du dein Geschäft führen sollst oder so«, sagte er, »aber hast du mal daran gedacht, dich von den Leuten für deine Arbeit bezahlen zu lassen?«
Einen Moment bemühte sich die Verkabelung in ihrem Gehirn um die richtigen Verbindungen, bis ihr das kleine Mädchen von eben einfiel. Sie räusperte sich und sah sich um. Das Mädchen saß auf dem Bürgersteig, das Kleid über die Knie gezogen, und summte zu der Musik, die aus den winzigen Lautsprechern kam. Kunden schoben sich über den Markt, schlenkerten mit ihren Tüten und aßen gekochte Tee-Eier. Die Ladenbesitzer waren mit Schwitzen beschäftigt. Niemand beachtete sie.
»Ich will dir auch nicht vorschreiben, was ein Prinz zu tun hat, aber müsstest du nicht ein paar
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