Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Stimme der Frau: »Linh Cinder, Sie sind verhaftet.« Auf ihrem Retina-Display tanzten rote Buchstaben.
Empfohlene interne Betriebstemperatur überschritten. Abkühlungsprozess erforderlich. Anderenfalls wird das System in einer Minute automatisch heruntergefahren.
»Linh Cinder, heben Sie die Hände über den Kopf. Langsam. Keine plötzlichen Bewegungen.«
Sie versuchte, den Nebel ihres Sichtfeldes zu durchdringen. Nur mit Mühe konnte sie erkennen, dass die Polizistin eine Pistole auf ihre Stirn gerichtet hielt. Thorne hatte dem jungen Mann mit dem Port gerade einen Nasenhieb verpasst, doch der holte zum Gegenschlag aus. Der dritte Polizist zielte mit seiner Pistole auf die beiden, die sich inzwischen ineinander verkeilt über den nächsten Tisch rollten.
Cinder holte tief Luft, froh, dass der Schmerz in der Brust abgeebbt war.
Fünfzig Sekunden bis zum automatischen Herunterfahren ...
Sie atmete ganz langsam aus.
Countdown zum automatischen Herunterfahren abgebrochen. Temperatur sinkt. Abkühlungsprozess erfolgt.
»Linh Cinder«, sagte die Frau noch einmal, »heben Sie die Hände über den Kopf. Ich bin befugt, notfalls zu schießen.«
Cinder hatte vergessen, dass ihre Fingerspitze geöffnet und der Pfeil schussbereit war.
»Kommen Sie langsam hinter dem Tisch hervor und drehen Sie sich um.« Die Frau trat einen Schritt zurück, um Cinder Platz zu machen. Thorne hatte einen Schlag in die Magengrube bekommen und war stöhnend vornübergesackt.
Cinder erschrak, aber sie tat, wie es die Frau befohlen hatte, und wartete darauf, dass sie ruhiger wurde und die Schwäche vorüberging. Sie bereitete sich vor, denn sie wusste, dass sie nur noch diese eine Chance hatte.
Als sie Thorne Handschellen anlegten, drehte sich Cinder langsam um und sah aus dem Augenwinkel, wie die Frau an ihren Gürtel griff.
»Das wollen Sie eigentlich gar nicht«, sagte Cinder. Wieder zog sich alles in ihr zusammen. Ihre Stimme klang schrecklich liebenswürdig. »Denn eigentlich wollen Sie uns gehen lassen.«
Die Polizistin glotzte sie aus hohlen Augen an.
»Sie wollen uns gehen lassen.« Der Befehl richtete sich an alle drei – und an alle anderen im Gasthaus, auch an die verängstigten Gäste, die sich an die hintere Wand drückten. Als ihre Stärke und ihre Macht zurückkehrten, begann Cinders Kopf zu summen. »Sie wollen uns gehen lassen.«
Die Polizistin ließ die Arme sinken. »Wir wollen Sie gehen …«
Ein raues Gebrüll erhob sich in der Kneipe. Der Mann mit den blauen Augen hatte seinen Stuhl zurückgeworfen und sich auf den Tisch gestützt, der unter seinem Gewicht zusammengebrochen und laut dröhnend auf den Boden gekracht war. Die Gäste drängten sich von ihm fort. Cinder sah zu Thorne, der das Schauspiel mit gefesselten Händen betrachtete.
Der Fremde fletschte knurrend die Zähne. Er war jetzt auf allen vieren, Speichel tropfte ihm aus dem halb geöffneten Mund. Die eisblau leuchtenden Augen unter seinen buschigen Brauen hatten jetzt einen irren, blutrünstigen Ausdruck angenommen, von dem Cinder übel wurde. Er kratzte mit den Nägeln über den Fußboden und schielte von unten in die entsetzten Gesichter um ihn herum.
Dann gab er ein tiefes Knurren von sich, und als er die Oberlippe kräuselte, zeigten sich spitze Zähne wie die eines Hundes.
Cinder drückte sich gegen den Stuhl. Es musste wohl doch einen Schwelbrand wegen Überhitzung gegeben haben – ihre Optobionik schien falsche Informationen an ihr Gehirn weiterzuleiten. Doch sosehr sie sich auch bemühte, ihr Sichtfeld klarte nicht auf.
Die drei Polizisten zielten gleichzeitig auf den Mann, doch der gab sich vollkommen unbeeindruckt. Er schien Gefallen an der Panik der Leute zu finden, die sich schreiend in Sicherheit bringen wollten.
Dann griff er den Polizisten an, der ihm am nächsten stand, und packte seinen Kopf mit beiden Händen. Ein lautes Knirschen und der Mann fiel leblos zu Boden. All das in einer einzigen verschwimmenden Bewegung.
Die Gäste brüllten und rannten zur Tür, rempelten sich an und stolperten über die umgekippten Stühle und Tische.
Der Mann achtete nicht auf die Menge. Er grinste Cinder an. Bebend wich sie in die Ecke zurück.
»Hallo, kleines Mädchen«, sagte er mit einer viel zu menschlichen, viel zu beherrschten Stimme. »Ich glaube, meine Königin sucht nach dir.«
Er stürzte sich auf sie. Cinder wich ihm aus, der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.
Die Polizistin grätschte zwischen sie und schützte
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