Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
abgesessen.
Cinder rutschte an einem Wandpaneel zu Boden und wünschte sich, sie hätte nicht nachgesehen. Aus dem Gefängnis zu fliehen war schlimm genug, aber einem Kriminellen zur Flucht zu verhelfen – einem richtigen Kriminellen … Und dann auch noch in einem gestohlenen Raumschiff?
Sie schluckte und sah sich das Loch an, das sie durch die Zellenwand in den angrenzenden Wartungsraum gebohrt hatte, während Carswell Thorne noch immer Däumchen drehend auf dem Feldbett hockte, die Ellenbogen auf die Knie gestützt.
Sie wischte sich die feuchten Handflächen an der kalkweißen Hose ab. Es ging nicht um Carswell Thorne. Es ging um Königin Levana, Imperator Kai und Prinzessin Selene . Das unschuldige Kind, das Levana vor dreizehn Jahren zu ermorden versucht hatte. Das gerettet werden konnte und zur Erde gebracht worden war. Die meistgesuchte Person auf der Erde. Zufälligerweise Cinder persönlich.
Es war gerade einmal vierundzwanzig Stunden her, seit sie das herausgefunden hatte. Dr. Erland hatte ihre Herkunft zwar schon vorher durch Tests zweifelsfrei feststellen können, ihr aber die Wahrheit vorenthalten, bis Königin Levana sie beim alljährlichen Ball erkannt und damit gedroht hatte, die Erde anzugreifen, wenn man Cinder nicht sofort inhaftierte, weil sie eine illegale Einwanderin von Luna war.
Dr. Erland hatte sich ins Gefängnis geschmuggelt und ihr einen neuen Fuß mitgebracht. Dazu eine Cyborg-Hand auf dem neuesten Stand der Technik mit lauter einfallsreichem Schnickschnack, an den sie sich immer noch gewöhnen musste. Und er hatte ihr den Schock ihres Lebens versetzt. Dann hatte er sie zur Flucht gedrängt. Später sollte sie ihn in Afrika treffen – als handelte es sich bei alldem nur um den Austausch eines Prozessors in einem Wächterdroiden 3.9.
Dieser Auftrag – so einfach wie unmöglich – hatte ihr neben ihrer neu entdeckten Identität etwas gegeben, worauf sie sich konzentrieren konnte. Das war gut gegen die Anspannung, die sie schachmatt zu setzten drohte. Dabei war es wirklich ein schlechter Moment für Unentschlossenheit. Was immer sie auch tun würde, sobald sie hier rauskäme, eines wusste sie mit Gewissheit: Wenn sie nicht floh, bedeutete das den sicheren Tod, denn Levana würde früher oder später kommen, um sie mitzunehmen.
Sie schielte zu ihrem Mitgefangenen hinüber. Mit einem Raumschiff könnte sie es schaffen.
Er drehte Däumchen und ließ sie, wie befohlen, in Ruhe. Die Worte hatten wie Feuer in ihrem Mund gebrannt, ihre Haut war heiß und ihr Blut schien zu kochen. Das Gefühl heißzulaufen war eine Nebenwirkung ihrer lunarischen Gabe, die Dr. Erland freigesetzt hatte, nachdem sie jahrelang mit Hilfe einer Vorrichtung an ihrer Wirbelsäule verschlossen gewesen war. Ihr kam es zwar immer noch wie Hexerei vor, aber es handelte sich nur um eine genetische Veranlagung der Lunarier, die es ihnen gestattete, die Bioelektrik anderer lebender Wesen zu kontrollieren und zu manipulieren. Lunarier konnten Menschen dazu bringen, Dinge zu sehen, die nicht existierten, und Gefühle zu entwickeln, die auf nichts beruhten. Sie konnten Menschen einer Gehirnwäsche unterziehen, so dass sie Dinge taten, die sie sonst nie tun würden. Ohne Diskussion. Ohne Widerstand.
Cinder lernte noch, wie diese »Gabe« einzusetzen war, und sie war sich nicht sicher, wie sie es geschafft hatte, Carswell Thorne zu beeinflussen oder die Wächter zu überreden, sie in eine günstigere Zelle zu verlegen. Sie wusste nur, dass sie Thorne stranguliert hätte, wenn er nicht augenblicklich mit dem Gequassel aufgehört hätte, und mit einem Mal war ihre Gabe durch den Stress und ihre angespannten Nerven vom Nacken her aufgewallt. Sie hatte sie nur einen kurzen Moment nicht unter Kontrolle gehalten, und im selben Atemzug hatte Thorne genau das getan, was sie sich von ihm wünschte.
Er hatte aufgehört zu quatschen und sie in Ruhe gelassen.
Und sie hatte sofort Schuldgefühle gehabt. Sie wusste ja überhaupt nicht, welche Wirkung diese Gehirnmanipulationen auf Menschen hatte. Außerdem wollte sie keine dieser Lunarier sein, die ihre Macht einsetzten, nur weil sie es konnten. Sie wollte überhaupt keine Lunarierin sein.
Cinder blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und kauerte sich vor das Loch in der Wand, aus dem sie das Urinal gestemmt hatte.
Thorne sah zu ihr hoch, als sie sich vor ihm aufbaute, die Hände in die Seiten gestemmt. Er war immer noch benommen, und wenn sie es auch nicht gerne
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