Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
auf ihn losgelassen. Weil Cinder diesen dummen Kommentar auf dem Ball gemacht hatte. Weil sie behauptet hatte, Levana wäre nicht schön.
Kai massierte sich die Schläfen. Er durfte nicht mehr daran denken. Cinder musste gefunden werden, und zwar bevor Levana stellvertretend für sie Millionen von Menschen ermordete.
Jetzt hatte sich alles der Politik unterzuordnen. Pro und Kontra, Geben und Nehmen, Handel und Vereinbarungen. Cinder musste gefunden, Levana beschwichtigt werden, Kai musste aufhören, sich beleidigt und betrogen zu fühlen, und sich endlich wie ein Imperator benehmen.
Was auch immer er für Cinder empfunden hatte – oder zu empfinden geglaubt hatte –, es war vorbei.
15
Cinder stellte die Dusche ab und lehnte sich gegen die Fiberglaswand. Aus dem Duschkopf rieselten ein paar Tröpfchen auf ihren Kopf. Sie hätte gerne länger geduscht, machte sich aber Sorgen wegen des Wasservorrats. Thorne hatte eine halbe Stunde unter der Dusche verbracht, auf seine Sparsamkeit war bestimmt kein Verlass.
Sauber war sie jedenfalls wieder. Der Gestank der Kanalisation und der salzige Schweiß waren weggespült. Sie trat aus der Gemeinschaftsdusche, rubbelte sich die Haare mit einem gestärkten Handtuch trocken und nahm sich Zeit, die Gelenke ihrer Prothesen sorgfältig abzutrocknen. Das war reine Gewohnheit, denn ihre neuen Gliedmaßen waren ohnehin rostfrei. Dr. Erland schien an alles gedacht zu haben.
Den verdreckten Gefängnisoverall hatte sie achtlos in eine Ecke geworfen. In der Mannschaftsunterkunft fand sie eine abgelegte Armeeuniform: eine anthrazitfarbene Hose, die sie mit einem Gürtel in der Taille zusammenhalten musste, und ein schlichtes weißes Unterhemd, das sich nicht besonders von den T-Shirts unterschied, die sie früher immer getragen hatte – bevor sie vor der Staatsgewalt fliehen musste. Sie vermisste nur ihre Handschuhe. Ohne sie fühlte sie sich nackt.
Sie warf den Gefängnisoverall und das Handtuch in den Wäschekorb und entriegelte das Badezimmer. Von dem engen Flur zweigte rechts eine Tür zur Bordküche ab und links war der Lagerraum voller Plastikkisten.
»Trautes Heim, Glück allein«, murmelte sie, wrang die letzten Tropfen aus den Haaren und trottete durch den Frachtraum.
Keine Spur vom sogenannten Kapitän. Nur die schwache Betriebsbeleuchtung – und die Dunkelheit und Leere des Alls, das sich unendlich ausdehnte und Cinder das eigenartige Gefühl vermittelte, ein Phantom zu sein, das auf einem Schiffswrack spukte. Durch die Vorratsbüchsen bahnte sie sich einen Weg zum Cockpit, wo sie sich in den Pilotensitz sinken ließ.
Durch das Fenster sah sie die Erde unter einem Wolkenwirbel liegen – die Küste der Amerikanischen Republik und einen großen Teil der Afrikanischen Union. Und jenseits der Erde die Sterne, klare und milchige, die im Nebel unzähliger Galaxien verschwanden. Sie waren schön und furchterregend zugleich, Millionen von Lichtjahren entfernt und doch so hell und nah, dass es ihr fast die Luft zum Atmen nahm.
Alles, was Cinder sich je gewünscht hatte, war Freiheit gewesen. Freiheit von ihrer Stiefmutter und deren selbstherrlichen Regeln. Freiheit von einem Leben ununterbrochener Arbeit, die ihr nichts einbrachte. Freiheit von den höhnischen Blicken und gehässigen Worten der Fremden, die dem Cyborg-Mädchen nicht über den Weg trauten, weil sie zu stark und zu schlau war und zu fachkundig mit Maschinen umging. Weil sie nicht normal war.
Jetzt hatte sie diese Freiheit – aber es war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte.
Seufzend legte Cinder einen Fuß auf das andere Knie, schob das Hosenbein hoch und öffnete das Fach in ihrer Wade. Es war durchsucht und geleert worden, als man sie im Gefängnis eingeliefert hatte – ein weiterer Übergriff auf ihre Privatsphäre –, aber das Wertvollste hatten sie übersehen. Kein Zweifel, dass die Wärterin die Chips, die hinter dem Kabelgewirr lagen, beim Durchsuchen für Teile von Cinders Cyborg-Hardware gehalten hatte.
Drei Chips. Sie zog einen nach dem anderen hervor und legte sie auf die Armlehne.
Der schimmernde weiße Chip aus Luna, aus einem Material, das Cinder noch nie zuvor gesehen hatte. Levana hatte den Befehl erteilt, ihn Nainsi, der Androidin von Kai, installieren zu lassen, um so an geheime Informationen zu gelangen. Das Mädchen, das den Chip programmiert hatte, vermutlich die persönliche Programmiererin der Königin, hatte den Chip später genutzt, um Cinder zu kontaktieren
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