Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Spiegel nicht wiedererkannt – mit der sauberen Uniform und den ordentlich zurückgekämmten Haaren.
Er roch seinen Bruder, sowie er die Bibliothek betrat, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Fast unmerklich wurde er langsamer, als er über die holzgetäfelte Empore auf das Arbeitszimmer des Thaumaturgen zuging. Früher war dieser Raum Mitgliedern der Königsfamilie vorbehalten gewesen – das waren wichtige Erdbewohner aus allerhöchsten Gesellschaftskreisen, die hier Muße fanden, über die philosophischen Arbeiten ihrer Vorgänger nachzudenken. Verglaste Regale, in denen früher Kunst und Bücher von unschätzbarem Wert ausgestellt worden waren, zogen sich über zwei Stockwerke an den Wänden hoch. Aber jetzt standen hier keine Bücher mehr, denn sie waren alle längst vom Militär in Sicherheit gebracht worden. Nur ein moderig dumpfer Geruch war zurückgeblieben, der sich in den Poren des Holzes festgesetzt hatte.
Jael saß an einem breiten Acrylschreibtisch, der in der extravaganten Bibliothek hervorstach. Ran lehnte an einer Bücherwand.
Sein Bruder lächelte ihn an. Fast jedenfalls.
Jael stand auf. »Alpha Kesley, danke, dass Sie sich so kurzfristig freimachen konnten. Ich wollte, dass Sie der Erste sind, der erfährt, dass Ihr Bruder wohlbehalten zurückgekehrt ist.«
»Das freut mich«, sagte er. »Hallo, Ran. Als ich dich zuletzt gesehen habe, ging es dir nicht so gut.«
»Dir auch nicht, Ze’ev. Aber du riechst jetzt besser, wo du den Menschengeruch abgewaschen hast.«
Wolf spannte jeden Muskel an. »Hoffentlich trägst du mir nicht nach, was im Wald passiert ist.«
»Keineswegs. Du hast eine Rolle gespielt. So wie ich es sehe, hast du genau das getan, was du tun solltest. Ich hätte mich nicht einmischen sollen.«
»Stimmt. Hättest du nicht.«
Ran hakte die Daumen unter seine weite Taillenschärpe. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Bruder. Du machtest fast einen … verwirrten Eindruck.«
»Wie du gerade erwähnt hast«, sagte Ze’ev und schob das Kinn vor, »habe ich eine Rolle gespielt.«
»Ich hätte nicht an dir zweifeln sollen. Trotzdem ist es erfreulich, dich wieder in deiner normalen Verfassung zu sehen. Und ich habe mir Sorgen gemacht, als ich den Schuss gehört habe. Wie gut, dass die Kugel dich nicht getötet hat. Sie hätte dich ins Herz treffen können.« Ran grinste und wandte sich wieder an Jael. »Wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, erbitte ich die Erlaubnis, mich an meinem Posten zurückzumelden.«
»Erlaubnis erteilt«, sagte Jael und nickte, als Ran ihn mit der erhobenen Faust vor der Brust grüßte.
Ze’ev nahm einen Hauch von Scarlets Geruch an Ran wahr, als dieser an ihm vorbeistrich, und sein Magen zog sich zusammen. Er entspannte die Muskeln bewusst und bekämpfte den Urinstinkt, seinem Bruder das Herz aus der Brust zu reißen, sollte er ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben.
Ran neigte den Kopf und sah ihn geheimnisvoll aus dunklen Augen an. »Willkommen, Bruder.«
Ze’ev stand starr, bis er die Tür am anderen Ende der Empore ins Schloss fallen hörte. Er salutierte dem Thaumaturgen. »Wenn sonst nichts mehr ist …«
»Doch, wir müssen noch etwas besprechen. Etwas Wichtiges sogar.« Jael ließ sich in seinen Sessel sinken. »Heute Morgen habe ich eine Tele von Ihrer Majestät erhalten. Sie befiehlt allen auf der Erde stationierten Rudeln, morgen zum Generalangriff überzugehen.«
Er biss die Zähne aufeinander. »Morgen?«
»Ihre Verhandlungen mit dem Asiatischen Staatenbund sind nicht wunschgemäß verlaufen. Jetzt ist ihr der Geduldsfaden gerissen. Sie will sich nicht mehr auf Kompromisse mit der Gegenseite einlassen. Sie hat in einen vorläufigen Frieden eingewilligt, sollte man das Cyborg-Mädchen, Linh Cinder, ergreifen und ihr aushändigen. Doch das ist nicht geschehen. Der Angriff wird aus Neu-Peking koordiniert und um Mitternacht Ortszeit beginnen. Für uns bedeutet das: Wir greifen um achtzehn Uhr an.« Er steckte die Hände in seine weiten purpurfarbenen Ärmel, deren Runenstickerei im Licht der solarbetriebenen Lampen schimmerte. »Ich bin erfreut, dass Sie rechtzeitig zurückgekommen sind, um Ihre Männer anzuführen. Ich will Sie zum Anführer unseres Pariser Angriffs machen. Sind Sie dieser Aufgabe gewachsen?«
Ze’ev legte die Hände auf den Rücken und nahm die Handgelenke in den Schraubstock, bis sie wehtaten. »Es liegt mir fern, die Motive Ihrer Majestät zu hinterfragen, aber warum sollen wir die Suche nach der
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