Die Lust des Bösen
Jahren, die man mit geöffnetem Schädel und aufgeschnittenem Brustkorb dort hingelegt hatte. Um die Tote herum waren achtzehn rote Rosenblätter drapiert. Neben ihrem ausgehöhlten Kopf waren zwei ihrer Organe in Glasbehältern dekorativ aufgestellt. Wie ein Sammler wertvoller seltener Spezies hatte der Täter ihr Herz und ihr Gehirn präpariert und zur Schau gestellt.
»Meine Güte, da muss man so alt werden, und dann noch mal so eine Sauerei.«
»Wie viele Irre laufen dort draußen eigentlich rum, und wie viele junge Mädchen müssen für diese Perversen ihr Leben lassen?«, sinnierte Jaroslaw.
»Weißt du«, wandte sich der Kommissar an seinen Freund, »ich habe nur noch ein paar Monate bis zur Rente, und die wollte ich eigentlich ruhig angehen lassen.«
Der Historiker nickte verständnisvoll. Das war einer jener Gründe, warum er sich lieber mit der trockenen Geschichtsmaterie herumschlug. Die war manchmal langweilig, aber nie gefährlich.
Der polnische Kommissar bat ihn, die beiden Damen zu holen, die die Leiche gefunden hatten.
Rosemarie und Hildegard waren vollkommen aufgelöst. Die Deutschlehrerin stand unter Schock, ihr Gesicht war fahl, sie zitterte und stammelte unverständliches Zeug.
Jaroslaw hatte den eintreffenden Notarzt sofort gebeten, sich die beiden einmal anzusehen. Der Lehrerin hatte er eine Beruhigungsspritze gegeben. Bei ihrer Freundin schien es nicht so schlimm zu sein; sie hatte ja auch nicht das volle Ausmaß der Schändung gesehen, denn als ihre Begleiterin aufgeschrien hatte, war sie sofort davongelaufen und hatte die Gruppe informiert. Ihre Freundin indes hatte an der Leiche gestanden und sie angestarrt. Bewegungslos hatte sie dort verharrt, bis der Historiker zu ihr gekommen war.
Dr. Carolina Kalinowski hatte gerade mit ihrer Arbeit begonnen, als Jerzy sie fragte, wie lange das Opfer ihrer Ansicht nach schon tot sei.
»Das kann ich erst nach Abschluss meiner Untersuchun gen beantworten. Im Gegensatz zu meinen Kollegen aus dem Fernsehen kann ich nicht mit einem Blick auf die Leiche feststellen, wann und woran sie gestorben ist.
Gedulden Sie sich ein paar Minuten, und dann gebe ich Ihnen einigermaßen gesicherte Informationen«, meinte sie schließlich und schüttelte den Kopf über so viel Ungeduld.
Der Kommissar entschuldigte sich, er wolle sie nicht drängen.
»Das schaffen Sie auch nicht!« Die Forensikerin, die sich nicht aus ihrer Ruhe bringen ließ, begann den Countrysong »If Tomorrow Never Comes«, den sie auf dem Weg hierher im Radio gehört hatte, zu summen. Sie zog sich ihre Gummihandschuhe über und blickte auf die Leiche: »Na, dann wollen wir mal.«
Sie überprüfte, ob Leichenflecke vorhanden waren und ob die Totenstarre schon eingesetzt hatte.
Dabei entdeckte sie einige kleinere blauviolette Leichenflecken am Bauch und drehte die Leiche, um nachzusehen, ob sich auch auf dem Rücken die typischen Hautverfärbungen befanden.
»Ja, hier haben wir sie, deutlich ausgeprägt«, sagte sie zufrieden. Es konnte demnach sein, dass die Verstorbene zum Zeitpunkt ihres Todes auf dem Rücken gelegen hatte und seither nicht umgedreht worden war. Aber es könnte natürlich auch genauso gut sein, überlegte sie, dass sie innerhalb der ersten sechs bis zwölf Stunden in Bauchlage gedreht wurde. Nach dem Tod ließen sich Leichenflecken auch »umlagern«.
Sie presste mit dem Zeigefinger auf einen der Flecke, um zu sehen, ob er sich wegdrücken ließ. Die Rötung verflüchtigte sich für einen Moment. Sie ließ los, und die Färbung kehrte zurück, was dafür sprach, dass das Mädchen seit weniger als zwanzig Stunden tot war.
»Und nun schauen wir uns mal dein Kinn an«, murmelte die junge Rechtsmedizinerin. Sie nahm es in ihre Hände und spürte eine deutlich ausgeprägte Starre, wie sie sich schon etwa dreißig Minuten nach dem Tod bildet. Als Erstes manifestiert sich die Starre im Kiefergelenk, tritt dann in den Schulter- und Ellenbogengelenken auf.
Sie prüfte die Hüft- und Kniegelenke, und auch hier war die Leichenstarre unverkennbar. Es war also davon auszugehen , dass das Opfer zwischen zwei und zwanzig Stunden tot war.
Sie öffnete ihren Tatortkoffer und holte ein batteriebetriebenes Reizstromgerät hervor. Um den Todeszeitpunkt weiter einzugrenzen, war die Stimulation der Gesichtsmuskulatur per Stromstoß eine gute Möglichkeit. Sie befestigte die Patches des Gerätes auf den inneren und äußeren Lidwinkeln der Toten und wartete, was passieren würde.
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