Die Lust des Bösen
Nichts.
»Aha!«, murmelte sie nickend. »Das sagt uns, dass die junge Frau mindestens sechs bis acht Stunden tot ist, weil ihre Gesichtsmuskeln nicht mehr auf elektrische Impulse reagieren.«
Jetzt maß sie noch die Körpertemperatur und machte abschließend eine Pupillenprobe, dann konnte sie die Todeszeit auf plus minus zwei Stunden genau bestimmen. »Die Pupillen reagieren auf das Einträufeln entsprechender Augentropfen noch bis zu zwölf Stunden nach dem Tod mit Verengung oder Erweiterung, unter bestimmten Umständen auch noch einige Stunden länger«, erläuterte sie ihr Vorgehen.
»Okay, klingt gut«, bemerkte Jerzy, der die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen war. Er war begeistert von ihrer Art zu arbeiten. So präzise, gewissenhaft und systematisch – Schritt für Schritt. Dr. Carolina Kalinowski ließ nichts aus. Wenige Kollegen hatte er im Laufe seiner Karriere getroffen, die so sorgfältig arbeiteten.
»Na, dann haben Sie ja schon alles mitbekommen«, sagte die Ärztin. Die Bestimmung der Todeszeit mithilfe der Differenz zwischen der am Leichnam gemessenen Körperkerntemperatur und der Umgebungstemperatur war immer noch die sicherste Methode. Dafür maß sie jetzt die Umgebungstemperatur an verschiedenen Stellen der Höhle und in verschiedenen Höhen über dem Fußboden. Dann errechnete sie aus den Messergebnissen einen Mittelwert. Die Methode war ziemlich einfach, aber relativ präzise, denn die Abkühlung des menschlichen Körpers folgte bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die eine Rückrechnung auf den ungefähren Todeszeitpunkt ermöglichten. Ausgangswert war die Körperkerntemperatur des Menschen, also knapp siebenunddreißig Grad. Nach dem Tod blieb sie zunächst etwa drei Stunden lang konstant. Danach verringerte sie sich um zirka ein Grad Celsius pro Stunde. Entsprechend ließen sich aus der Differenz Rückschlüsse auf die Todeszeit ziehen.
»So, jetzt habe ich alles«, sagte Dr. Kalinowski zufrieden.
»Hier«, Jerzy hielt ihr einen Becher Kaffee hin, »den werden Sie bestimmt brauchen.«
Carolina lächelte ihn dankbar an, während sie begann, alle Ergebnisse in eine Tabelle ihres Laptops zu hacken. Sie gab Leichenstarre, Totenflecken, elektrische Erregbarkeit der mimischen Muskulatur, Pupillenreaktion, Körpertemperatur, Bekleidung und Umgebungsbedingungen ein. Aus diesen Parametern berechnete das Programm dann die ungefähre Todeszeit.
»Also, ich kann jetzt mit einiger Bestimmtheit sagen, dass die junge Frau hier seit maximal zehn Stunden tot ist. Aber für die Rekonstruktion des Tathergangs, ob sie noch lebte, während man ihr den Schädel öffnete, und was sonst noch mit ihr passiert ist, brauche ich noch ein paar Stunden im Institut.«
»Gut.« Jerzy machte sich zufrieden auf den Weg zu den Kollegen der Spurensicherung.
Er wusste, dass die Rechtsmedizinerin alles finden würde, was relevant sein könnte. Die Tote war bei ihr in den besten Händen.
Nach wie vor war ihm jedoch ein Rätsel, wie eine so junge, attraktive, intelligente Frau ausgerechnet diesen Beruf ergreifen konnte. Manchmal verstand er die Welt nicht mehr. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass sie sich verändert hatte, so sehr, dass sie nicht mehr seine war.
»Na, was habt ihr gefunden?«, fragte er jetzt Carol, einen alten Hasen, der fast genauso lange dabei war wie der polnische Kommissar.
»Nicht viel«, bekannte der etwas resigniert.
»Wir können mit Sicherheit nur sagen, dass in den letzten zehn Stunden mehrere Personen hier waren, denn wir haben verschiedene Fußspuren festgestellt.
Außerdem haben wir in dieser Feuerstelle noch einige winzige Glutreste entdeckt. Auch in der Höhle haben sich wieder mehrere Fußspuren gefunden. Aber das Interessanteste, auf das wir gestoßen sind, ist das.«
Wie eine wertvolle Trophäe hielt er dem Kommissar den Fund direkt vor die Nase.
»Eine Goldkette?«, fragte Jerzy ungläubig.
»Ja, eine mit einem Adler.«
Interessant, überlegte der Kommissar. Sieht aus wie ein alter Reichsadler.
»Lassen sich an dieser Kette eventuell Faserspuren nachweisen?«, wollte er von Carol wissen.
»Das muss ich im Labor testen.«
L ea saß in ihrem Ledersessel vor ihrem Glasschreibtisch. Stundenlang musste sie hier schon ausgeharrt haben, und vermutlich war sie, ohne es zu bemerken, einfach eingenickt. Sie hatte Hunger, wusste allerdings nur zu gut, dass ihr Kühlschrank nichts mehr hergab. Nur der Pizzaservice kam also noch in Frage, und Pizza mit Thunfisch war das
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