Die Lust des Bösen
schon über den Führer gelesen und die Berichte über die Wolfsschanze verschlungen.
Rosemarie hatte als Hausfrau wohl ihr ganzes Leben lang eine Existenz im Schatten ihres Ehemannes, eines berühmten Geschichtsprofessors, geführt, dessen Spezialgebiet das Dritte Reich war.
Nie hatte sie mit ihm darüber diskutieren können, denn Karl nahm sie nicht ernst. Er glaubte, seine Frau sei für wissenschaftliche Gespräche einfach zu dumm. Dann hatte er sie in den Panther-Club eingeführt, damit sie endlich eine Beschäftigung hatte und ihm nicht länger auf die Nerven fiel. Er hatte einfach keine Lust, nachdem er den ganzen Tag Vorlesungen gehalten und geredet hatte, auch noch zu Hause zu diskutieren.
So hatte sie sich den Panthern angeschlossen und war gemeinsam mit ihrer Freundin Hildegard, einer Deutschlehrerin, zur Wolfsschanze gefahren. Sie wollte sich ihr eigenes Bild machen. Die beiden Frauen stiegen den schmalen Pfad über die Trümmer hinauf und blickten hinunter in den Innenhof.
»Schau mal«, sagte Rosemarie, »ich glaube, dort unten liegt etwas.«
»Komm, lass uns mal nachsehen.«
Beide stiegen hinab. Plötzlich durchdrang ein gellender Schrei die Stille des Waldes.
Eine Dreiviertelstunde später war die polnische Kriminalpolizei vor Ort. Kommissar Jerzy Kuszkowski hatte, gleich nachdem der Anruf bei ihm eingegangen war, die deutsche Polizei verständigt, denn ein deutscher Täter schien ihm bei diesem Fundort am naheliegendsten. Außerdem meinte er erst kürzlich von einem Fall deutscher Kollegen gehört zu haben, die eine Leiche in Berlin in Hitlers Fahrerbunker gefunden hatten. Die deutschen Polizeibehörden hatten seine Hinweise umgehend an die deutsche Sonderermittlungseinheit um Lea Lands und Max Hofmann weitergeleitet.
Der polnische Kommissar war nicht gerade bestens gelaunt, denn es war Sonntag, und man hatte ihn vom Frühstück mit seiner Familie geholt. Es war eben dieser eine Tag in der Woche, der ihm heilig war, also warum musste jedes Mal, wenn einer dieser Irren einen Mord verübte, die Leiche ausgerechnet am Sonntag gefunden werden?
Mit ihm zusammen war auch die junge Oberärztin Dr. Carolina Kalinowski am Tatort eingetroffen. Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie die jüngste weibliche Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin, das ansonsten immer noch von männlichen Kollegen dominiert wurde. Doch die attraktive, große schlanke Frau mit den wachen grünen Augen war keines der kleinen grauen Mäuschen, die man vielleicht in einem solchen Beruf erwarten würde.
Aber das Wichtigste, was sie mitbrachte, waren Humor und Lebensfreude, denn beides brauchte man in diesem Job, in dem man täglich mit dem Tod in all seinen Facetten konfrontiert wurde. Man musste sich eine Art Galgenhumor zulegen, mit dem man vieles einfacher bewältigen konnte, man musste lernen, Abstand zu halten zu all dem Grauen, das man zu sehen bekam. Und man durfte sich nicht zu sehr mit dem jeweiligen Toten und seiner Geschichte auseinandersetzen, sonst würde es einem die Seele zerfressen.
Die junge Ärztin hatte schnell gelernt, sich in diesem Job einen Panzer zuzulegen, und fand ihn in einer Art Routine: Unbeirrt ging sie an der Leiche nach einer Agenda vor, so wie manche Menschen ihre Akten im Büro. Sie begann mit dem Kopf und arbeitete sich hinab bis zu den Füßen. Sie liebte ihren Beruf, und es gefiel ihr, dass er nicht vorhersehbar und planbar war wie einer dieser Bürojobs. Man konnte nie im Voraus wissen, was einem der Tag oder auch manchmal die Nacht so brachte.
Der Geschichtswissenschaftler Jaroslaw kam nun auf den Kommissar zu.
»Hallo, Jerzy!«
»Mensch, das ist aber lange her.«
»Ich denke, du brauchst jetzt erst mal einen starken Kaffee. Warte hier, ich besorge dir einen.« Einige Minuten später kam der Historiker mit einem heißen Kaffeebehälter zurück, dem ein köstlicher Duft entstieg.
»Hier, den wirst du brauchen, obwohl ich glaube, dass du schon einiges in deinem Job gesehen hast. Aber das hier ist anders. So bestialisch und zugleich mysteriös.«
Der Kommissar bat seinen alten Bekannten, ihn zum Fundort zu begleiten und ihn mit einigen Details zu versorgen, was dieser gern tat, selbstverständlich half er seinem alten Freund, wenn der ihn brauchte.
Der Ermittler stieg über die Bunkerblöcke hinab in den Innenhof, und was er dort sah, überstieg in der Tat alles, was er in seiner bisherigen Laufbahn erlebt hatte.
Bei der Leiche handelte es sich um eine Frau von etwa zwanzig
Weitere Kostenlose Bücher