Die Lust des Bösen
Fantasien zu befriedigen. Und das Tötungsmuster? Wie wahrscheinlich war es, dass ihr Täter sein Vorgehen plötzlich änderte? Es gab einige Fälle, in denen dies passiert war, aber die konnte man an einer Hand abzählen. Nein, überlegte die Profilerin, es wäre zwar schön gewesen, endlich eine heiße Spur zu haben, aber der General kam höchstwahrscheinlich nicht als Täter für die Mordserie in Frage. Dennoch wollte sie sich sein Umfeld einmal näher ansehen. Vielleicht konnte ihr auch Jack etwas mehr über ihn erzählen. Aber zuerst wollte sie mit den Eltern der jungen Frau sprechen.
D as Gespräch mit Annas Eltern hatte Lea einige neue Erkenntnisse gebracht. Sie wusste jetzt, dass die junge Referendarin massive Probleme mit ihren Schülern gehabt hatte, besonders mit den Ausländern in ihrer Klasse. Vielleicht hatte Anna die Anerkennung, die sie in der Schule nicht bekommen hatte, deshalb so verzweifelt woanders gesucht: Bestimmt war es ihr darum gegangen, Gleichgesinnte zu finden, Menschen, mit denen sie sich über das Erlebte austauschen und ein Gemeinschaftsgefühl erleben konnte. Ja, Anna hatte einen stabilen Gegenpol zu ihrer Außenseiterposition in der Schule gebraucht. Lea wusste, dass die rechte Szene ein Auffangbecken für Außenseiter war, denn sie funktionierte nach einfachen hierarchischen Prinzipien. Es war leicht hineinzukommen, weil man nicht zwingend einer Ideologie folgen musste, um mitzumachen. Einfach mitlaufen, das reichte zumeist schon aus.
Und dann hatte es in Annas Leben auch einen jungen Mann namens Linus gegeben, in den sie unglücklich verliebt gewesen war, wie ihre Mutter erzählt hatte. Mit ihm war sie auch an jenem Abend zum ersten Mal verabredet gewesen.
Verdammt, überlegte Lea, hatte sie den Namen nicht schon einmal gehört? Ja, natürlich: die Teilnehmerliste der jungen Nationalisten von Jacks Besuch auf der Wolfsschanze! Aufgeregt kramte Lea in ihrer Schreibtischschublade und tatsächlich: Linus stand auf der Liste. Das wurde ja immer interessanter. Wusste Jack doch mehr, als er zugeben wollte?
Angestrengt überlegte sie, wie sie nun weiter vorgehen sollte. Sie musste herausfinden, ob Jack in die Sache verwickelt war. Damals hatte sie ihrem Bauchgefühl vertraut, aber was, wenn dieses Bauchgefühl sie getäuscht hatte? Sie musste versuchen, ihre Empfindungen außen vor zu lassen und objektiv zu bleiben. Doch es war schwer, verdammt schwer, denn Lea steckte mit ihren Gefühlen zu tief drin, um objektiv zu sein. Das Einzige, was ihr jetzt noch helfen konnte, waren Fakten. Sie musste Beweise finden, mit denen sie die Täter überführen konnte. Aber vor allem musste sie herausfinden, ob Jack in die Machenschaften der Black Brothers involviert war oder nicht.
Dann kam ihr ein Gedanke: Wenn sie ergründen könnte, wer dieses Vergewaltigungsvideo eingestellt hatte, das im Internet kursierte, und von welchem Computer die Mail an Anna versandt worden war, würde sie die Klarheit bekommen, die sie brauchte.
Lea zögerte nicht. Sie griff zum Telefon und rief die Spezialisten für IT-Forensik an, eine neu gegründete Abteilung im LKA Berlin.
Einige Minuten später stand ein junger Mann im Türrahmen ihres Büros.
»Sind Sie Frau Lands?«, fragte er, und Lea schaute kurz hoch.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, antwortete sie.
»Sie haben mich angefordert«, erklärte der junge Mann ruhig mit dem konzentrierten Blick eines Studenten vor einem wichtigen Examen.
Nun musste sie lachen. »Entschuldigen Sie bitte, Ihr Aussehen hat mich etwas irritiert. Sie entsprechen so ganz und gar nicht dem Klischee eines IT-Spezialisten. Manchmal werde ich eben auch Opfer meiner eigenen Vorurteile«, sagte sie und lächelte.
Auch der Spezialist, der sich als Heiko vorstellte, feixte. »Ja, das passiert mir nicht zum ersten Mal, dass mein Aussehen die Menschen irritiert, mit denen ich zu tun habe. Jedes Mal halten sie mich für einen Praktikanten oder Studenten, weil ich so jung und so bieder aussehe. Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Hinter dieser Fassade steckt ’ne ganze Menge. Was haben Sie für mich?«
Lea bot ihm an, Platz zu nehmen. Dann schob sie ihm Annas Laptop über den Schreibtisch.
»Den habe ich von den Eltern des Opfers«, erklärte sie dem verdutzten IT-Forensiker. »Na ja, es war nicht ganz legal, denn eigentlich bin ich offiziell für den Fall gar nicht zuständig. Genauer gesagt, es gibt gar keinen Fall. Aber wenn ich Ihnen jetzt erkläre, dass eine junge Frau vermutlich
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