Die Lust des Bösen
nichts. Manchmal führte eben auch die Seitenstraße nach Rom – es musste nicht immer die Autobahn sein.
Ihr Mentor hatte schon ein Glas Rotwein vor sich stehen, die alte Bibelausgabe aufgeschlagen und war in entspannter, bester Stimmung, als sie ins Lokal stürmte, an den Tisch eilte und erneut nach dem Sinn des erwähnten Psalms fragte.
»Setz dich doch erst einmal«, versuchte Sam sie zu beruhigen, »dann will ich es dir gern erklären.«
Während sie auf ein Glas ihres Lieblingsweins wartete, begann er den Psalm 119 zu erklären. Ursprünglich als Lied komponiert, war es ein klassischer Lobgesang, um Gott zu loben und zu preisen. So wie die Berührung unter Liebenden wichtig ist, hatte diese Art von Gotteslobpreisungen eine einscheidende Bedeutung.
»In der Heiligen Schrift finden wir viele solche Loblieder, aber dieses hier ist weit mehr. Wie du selbst wahrscheinlich schon bemerkt hast, ist es wie ein Gedicht – eine romantische Liebeserklärung.«
Lea nickte zustimmend, während ihr Mentor fortfuhr. »Und genau das ist der Punkt! Dieser Psalm hier ist etwas ganz Beson deres – er ist Zeugnis einer einzigartigen Poesie, wie man sie in der Bibel nur äußerst selten findet. Der Verfasser dieser ›Liebes erklärung‹ ist bereit, für die göttliche Erlösung alles zu geben. Er will all seine Kraft für dieses hehre Ziel einsetzen und weit über sich hinauswachsen. Ja, er geht sogar bis zur vollkommenen Selbstaufgabe. Er unterwirft sich voll und ganz dem Willen Gottes – er hört auf, selbst zu denken und zu existieren – er wird zum Werkzeug Gottes«, beendete der Professor seinen Vortrag.
Bis jetzt hatte sie gespannt zugehört, aber nun gab es für sie kein Halten mehr. »Mensch, Sam«, rief sie, »das ist es!«
Der Wissenschaftler blickte sie interessiert an.
»Nun, lass es mich so formulieren«, erklärte sie ihm, »eine Erlösung wird es für unseren Täter nur dann geben, wenn er es schafft, sich einen anderen Körper und auch dessen Geist vollkommen zu unterwerfen. Der Täter hat sich vermutlich an seinen Allmachtfantasien berauscht. Unser ›charismatischer Killer‹ ist in seinen Augen nicht nur eine Art gottgleiches Wesen, er glaubt, er sei Gott. Warum sonst hätte er diese Bibelsprüche auf die Karten der Opfer schreiben sollen?«
Da war etwas dran. In seiner Fantasie hatte der Täter offenbar schon tausend Mal alle erdenklichen Szenarien geschaffen, damit ihm die jungen Frauen ganz gehörten – mit ihrem Körper und mit ihrer Seele. Und allein in seiner Vorstellung konnte er alle denkbaren und noch so abwegigen Situationen kreieren und auch meistern. Die ewig gültigen Naturgesetze vom Werden und vom Vergehen hatten für ihn ihre Gültigkeit verloren. Nichts und niemand könnten ihn aufhalten, er bestimmte die Regeln, er entschied über den Verlauf des Dramas, und alles spielte sich so ab, wie er es wollte. Der Professor nickte. Leas Gedankengänge und Schlussfolgerungen ergaben Sinn: Der gesuchte Mörder hielt sich für allmächtig.
»Genau das ist der Punkt«, fuhr Lea fort, »zwei und zwei sind für ihn nicht etwa vier.«
»Er hat die absolute Macht«, ergänzte der Wissenschaftler, »und wenn er sagt, dass zwei und zwei fünf sind, dann sind es eben fünf.«
»Ja«, stimmte die junge Kriminalistin zu. »Aber ist es nicht für einen Täter wie ihn, der nicht gerade dumm zu sein scheint, langweilig, wenn alles nach seinem Willen läuft und er gar keinen Widerstand zu erwarten hat?«
»Du hast recht«, bestätigte der Professor, »und genau das ist es. Er hat zwar die totale Macht, aber sie allein ist zu öde und macht noch keinen Spaß. Er braucht einen Widerstand, den er überwinden muss, damit es ihm den ersehnten Kick bringt. Das Universum der Macht darf eben nicht grenzenlos sein.«
Inzwischen war die junge Profilerin voll in ihrem Element und ergänzte: »Wenn es keine Gegenwehr und keinen Gegenpol mehr gibt, wo bleibt dann der Reiz der Grenzüberschreitung?«
Unvermittelt musste sie dabei an sich selbst denken und wandte sich an ihren Lehrer: »Sind wir nicht alle ständig in Versuchung, Grenzen zu überschreiten, weil wir glauben, uns einen Kick holen zu müssen? Weil wir glauben, ohne dieses oder jenes Erlebnis nicht glücklich und zufrieden zu sein? Wir alle sind ständig Grenzgänger zwischen unseren Begehrlichkeiten und unserem Verstand, der mit ihnen kämpft und sie im Zaum hält. Und manchmal sind wir eben nicht stark genug, sie zu zügeln, und wir geben ihnen
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