Die Lust des Bösen
nach. Haben wir dann verloren?«
»Nein.«
Sam schüttelte den Kopf und war von ihren philosophischen Anwandlungen überrascht. Auch er war nicht selten ein Grenzgänger gewesen und hatte nur allzu oft seinem Verlangen ohne zu überlegen nachgegeben.
»Weißt du, Lea, ich glaube, es gehört zu uns Menschen wie die Luft zum Atmen. Es macht uns aus, dass wir alle einmal straucheln können und für einen Moment unseren Kopf verlieren, unser Denken ausschalten. Wichtig ist, dass wir erkennen, wenn wir Fehler gemacht haben.«
Er betrachtete sie. Sie war eine kluge, feinfühlige Frau. Wie gerne hätte er zeit seines Lebens eine solche Frau an seiner Seite gehabt. Doch bevor er noch melancholisch werden konnte, führte er sich wieder den Täter vor Augen und fragte sich und seine junge Kollegin, wie es denn um das Machtgefühl dieses Mörders bestellt sei.
»Nun, unserem Täter geht es – wie wir gerade festgestellt haben – nicht um omnipotente Allmachtsfantasien, sondern um die Macht, andere zu brechen. Und um diese Macht zu entfalten, braucht er Opfer – sensible, verletzbare, angreifbare, zarte Wesen, deren Widerstand es zu überwinden gilt. Wesen, die er beherrschen kann, indem er sie in seine Gewalt bringt, ihren Willen bricht, sie demütigt, quält und schließlich tötet. Du weißt ja, meine Liebe, dass nur die reale Tat für einen Kriminellen inspirierend, berauschend und befriedigend sein kann – nicht die bloße Fantasie. Erst der Mord lässt ihn ›Blut lecken‹ und auch zum Mörder werden.«
»Ja, ich verstehe alles. Aber ein Punkt ist noch offen, was bedeutet die Achtzehn in diesem Zusammenhang?«, bohrte die Profilerin unruhig weiter.
»Nun, die Zahlen haben in der Bibel neben ihrem tatsäch lichen Sinn und Wert auch vielfach eine geistliche Bedeutung.«
Der Wissenschaftler sah die junge Frau respektvoll und ein wenig verliebt an. Dieser Blick machte sie immer verlegen, so sehr, dass sie sich durch ihre vollen dunklen Haare fuhr wie ein junges Mädchen.
Und er genoss diese Unsicherheit bei ihr, wusste er doch, dass sie auch etwas für ihn empfand. Aber er wollte diese Situation auf keinen Fall ausnutzen und schon gar nicht ihre Freundschaft gefährden. Deshalb fuhr er fort: »Zur Achtzehn fällt mir allerdings in diesem Zusammenhang nichts Besonderes ein. Es gibt beispielsweise die Dreizehn, die die Zahl der Sünde und des Satans ist. Aber vielleicht müssen wir einfach etwas weitergehen. Häufig erscheinen in der Heiligen Schrift Zahlen, deren Vielfaches auch symbolische Bedeutung hat. So steht die neun in der Bibel für Vollendung und Fruchtfülle; vielleicht meint der Täter einfach die doppelte Vollendung mit seinen achtzehn Rosen?«
Eine interessante Erklärung. »Und mit seinen Taten hätte er zumindest sein Werk vollendet«, ergänzte sie.
»Vielleicht«, mutmaßte er, »steht hinter der Achtzehn auch die Zerlegung in die drei Zahlen Sechs plus Sechs plus Sechs, das wäre dann das Teuflische. Ein teuflisches Werk also, das er an seinen Opfern vollendet.«
»Möglich wäre es.« Lea war froh, dass sie Sam hatte, und noch bevor sie ihm danken konnte, meinte er verschmitzt lächelnd: »Siehst du, es gibt eben keine einfachen Lösungen für kompli zierte Probleme. Manchmal muss man den Faden geduldig spinnen, damit er nicht reißt.«
Sie dankte ihrem Mentor für seine Geduld und seine kleine Lektion und lächelte. Sie hatte verstanden.
In der Theorie wusste sie ziemlich genau, wie ihr Täter tickte. Und doch blieb eine wichtige Frage ungeklärt: Wie konnte dieser Täter – sollte ihre Theorie in Bezug auf sein Faible für Hitler stimmen – gleichermaßen dem Führer und göttlichen Heilssprüchen verfallen?
Zeit seines Lebens war Hitler Atheist gewesen, niemals hätte er von Gott oder gar von göttlicher Fügung gesprochen. Was also bewegte den Täter, zwei Bereiche miteinander zu vereinen, die so ganz offensichtlich nichts miteinander gemein hatten? Vielleicht war es auch gerade dieses Rätsel, das er ihnen aufgegeben hatte?
Was, wenn es dem Täter gerade darum ging, all das, was in der Bibel stand, zu verhöhnen, den Glauben der Menschen mit Füßen zu treten? Ja, dann wäre es ein fast »genialer« Schachzug. Vielleicht wollte er sie bewusst in die Irre führen, ganz gezielt all ihre Theorien in Frage stellen.
Nichts war so, wie es zunächst schien. Möglicherweise stand die Zahl Achtzehn gar nicht in biblischer Tradition. Viel leicht benutzte der Täter sie sogar als Code für
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