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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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Jetzt zu fokussieren, was ihr angesichts der finsteren Atmosphäre nicht besonders leichtfiel.
    Sie überlegte, was der Täter hier unten wohl empfunden hatte und was für ihn hier so wichtig war. Es war wohl kaum die düstere Atmosphäre allein, sondern es musste einen anderen Zusammenhang geben. Irgendetwas machte diesen Ort einzigartig für ihn – etwas, das ihn der Welt seiner Gedanken und Fantasien nahebrachte. Vielleicht stellte er im Geiste eine Verbindung zwischen dem Bunker und der Reichskanzlei her – sozusagen eine Brücke in Hitlers Reich?
    Wie man wohl von hier in die Reichskanzlei gelangte, wollte Lea von Carlson wissen.
    »Nun, ganz einfach: Jeder, der sich von den unterirdischen Garagen der Reichskanzlei durch den Verbindungsgang zum Fahrerbunker begab, musste erst noch eine breite Betontreppe hinunter, die dann unten auf einer Plattform endete mit der Eingangstür zu linken Hand. Dann passierte der Besucher diese Tür mit dem aufgepinselten Spruch darüber: ›Mannsbilder gibt es genug. Richtige Kerle wenig.«
    »Was mag das wohl bedeuten?«, murmelte sie.
    Auch ihr versierter Begleiter zuckte mit den Schultern.
    Will der Täter mit seinen abscheulichen Taten vielleicht bewei sen, dass er ein richtiger Kerl ist, überlegte sie. Was versteht er wohl unter einem richtigen Kerl? Dominant, cool, alles kontrollierend, allzeit bereit und machtvoll? Einer, der sich nimmt, was er will, und der für das einsteht, woran er glaubt? Ja, das könnte auf ihn passen. Vielleicht war der Täter ein Mensch, der immer noch an die Märchen der Nationalsozialisten glaubte, an ihre Ideologie, an die Herrenrasse und an die Weltherrschaft?
    »Kommen Sie«, forderte sie den passionierten Unterweltenschützer auf, »gehen wir noch einmal an den Fundort der Leiche.«
    Sie liefen den kalten, feuchten Gang entlang in den Raum mit den Wandmalereien. Lange schaute sich Lea das Gemälde an. »Was meinen Sie, wer ist diese Frau?«
    »Es könnte sich bei der blonden Frau um die Germania handeln«, mutmaßte er.
    »In der römischen Antike wurde sie – wie auf der ersten Malerei, die wir gesehen haben – als trauernde Gefangene dargestellt. Deshalb sehen wir sie dort auch liegend dargestellt, bewacht von einem Krieger.«
    Er wies auf das zweite Bild, vor dem sie jetzt standen. »Das hier zeigt die moderne Germania. Seit dem Hochmittelalter ist sie als gekrönte Frau und im neunzehnten Jahrhundert dann als Jungfrau dargestellt. Hier kann man deutlich die mütterliche Walküre mit zwei Kindern erkennen. Eines hält sie sicher in ihrem Arm, und den größeren Jungen führt sie an der anderen Hand.«
    »Eine schöne Frau, zweifelsohne«, meinte Lea, »ein wenig erinnert sie mich an Marylin Monroe.«
    Carlson musste schmunzeln.
    »Ja, auf den ersten Blick ist hier eine gewisse Ähnlichkeit festzustellen. Aber schauen Sie sich den Gesichtsausdruck der Frau genauer an. Sie sieht nach unten, demütig und schüchtern. Stellen Sie sich dagegen Marylin Monroe vor, lasziv, provokant und verführerisch. Die beiden Frauen könnten doch unterschiedlicher nicht sein.«
    Demütig und schüchtern, ja, das stimmte, und bei längerem Betrachten des Bildes kam Lea ein Gedanke. Genau, das war’s! Demütig und schüchtern – so wie die Opfer, die demütig und willfährig alle Wünsche ihres Peinigers erfüllten.
    Der Maler hatte hier das nationalsozialistische Frauenbild detailgetreu übernommen. In dieser Ideologie bestand die »natürliche« Hauptaufgabe der Frau schließlich darin, mög lichst viele Kinder zur Welt zu bringen, die zur Ausbreitung der »arischen Rasse« beitragen sollten. Die deutsche Frau im Dienste des Regimes – als Mutter, Ehefrau und, wenn nötig, als Kriegerin für das Deutsche Reich.
    Das war es: Möglicherweise sah der Täter Frauen als seine und des Führers demütige Dienerinnen.
    Bis heute war nicht viel über Hitlers Verhältnis zu Frauen und noch viel weniger über seine sexuellen Vorlieben bekannt. Die meisten Biographen und Forscher waren sich aber in einem einig: Hitlers große Liebe hatte seiner Nichte Geli Raubal gegol ten, die sich im Alter von nur dreiundzwanzig Jahren in der gemeinsamen Wohnung in der Prinzregentenstraße in München erschossen hatte. Hitler war daraufhin in eine tiefe Depression gefallen.
    Glaubte man den Überlieferungen von Weggefährten, musste seine Nichte eine lebenslustige, umschwärmte junge Frau gewesen sein, die mit ihrem ungezwungenen Wesen ohne jeglichen Anflug von Koketterie jeden

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