Die Lutherverschwörung
konnte. Intuitiv dachte er an einen Einzelnen, der in der Masse aufging und von ihr unsichtbar gemacht wurde. »Gebt mir sofort Bescheid, wenn euch etwas auffällt.«
Luther und seine Begleiter erreichten das Stadttor. Der anschließende Zug durch die engen Gassen von Worms entwickelte sich für Jost zum Alptraum. Luther winkte in die Menge, aber fröhlich wirkte er nicht. Vor Kaiser und Reich erscheinen! Luther stammte aus einfachen Verhältnissen, er war der Sohn eines Bergmannes. Wie sollte er sich auf einem Terrain bewegen, das er nicht kannte? Josts Mut sank, während er darüber nachdachte.
Dann sah er die Spanier, die sich aber im Hintergrund hielten. Sie trugen Helm und Rüstung und waren mit Schwertern und Hellebarden bewaffnet. Hatte der Kaiser sie damit beauftragt, die Ankunft Luthers zu überwachen? Fürchtete Karl das aufgebrachte Volk, war er besorgt um seine persönliche Sicherheit und die der Stadt? Dass mit den Spaniern nicht zu spaßen war, hatte Jost in Italien am eigenen Leib erfahren.
Luther würde im Johanniterhof unterkommen, aber der Weg dorthin war noch weit und führte am Dom vorbei. Jost war nie zuvor in Worms gewesen, und die Kathedrale zählte zu den schönsten, die er je gesehen hatte; besonders das Portal mit zahlreichen Figuren stach ins Auge, obwohl er nur einen flüchtigen Blick darauf werfen konnte.
Der Zug stockte, und Luthers Wagen kam zum Stehen. Es gab kein Vor und kein Zurück mehr, Männer und Frauen jeden Alters streckten die Hände nach Luther aus, eine Wormserin kletterte sogar auf den Wagen und fiel ihm um den Hals. Endlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Die Stadtväter bahnten Luther einen Weg zum Tor des Johanniterhofes. Bald darauf zog er sich in seine Kammer zurück; der Trubel vor seiner Unterkunft legte sich aber nur allmählich.
Die Stadt war voller Fremder und die Gasthöfe wegen des Reichstags überfüllt. Der Sekretär des sächsischen Kurfürsten hatte für Jost und seine Männer ein ganzes Haus mieten lassen, sodass sich Jost und Helmut wie üblich eine Kammer teilten. Nachdem er Wachen eingeteilt hatte, kehrte Jost dorthin zurück. Es war bereits Nacht und Helmut lag schon im Bett, aber Jost konnte nicht einschlafen. Angesichts der verworrenen Lage fühlte er sich völlig hilflos.
Als er endlich einschlief, irrte er im Traum durch irgendeine Stadt, die er nicht kannte, bis er schließlich vor der gigantischen Fassade einer Kathedrale stand. Er lief durch das Kirchenschiff, aber in dem riesigen Bauwerk war keine Menschenseele, obwohl es noch heller Tag war. Graues Licht fiel schräg durch hohe Fenster. Er fühlte sich unbehaglich und schaute zum Gewölbe hoch, als suche er etwas, wusste aber nicht, was. Hinter einem Seitenaltar lag etwas Dunkles. Er hob es auf und hielt ein langes, schwarzes Kleid in Händen. Was für eine unheimliche Bewandtnis hatte es mit der Frau, die es getragen hatte? Er bekam eine Gänsehaut.
Ein Schatten fiel auf den Gang, er kam aus einem Erker; dort, mitten in einem Rechteck aus grauem Licht, zeichneten sich schemenhaft die Umrisse von Locken ab und ein Rock, wie ihn kleine Mädchen tragen. Erleichtert ging er darauf zu und schaute in den Erker; dort stand im Dunkeln das Kind. Er breitete die Arme aus und trat näher, aber es war kein Mädchen, sondern ein sehr klein gewachsener Mann, der ein Messer in der Hand hielt. Die Klinge war auf Jost gerichtet …
Jost erwachte früh und dachte einmal mehr über den Mann nach, der Martha entführt hatte. Er versuchte aus dem, was Anna, Hanna, Cranach und die Wirtin ihm erzählt hatten, ein Bild zu gewinnen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Vielmehr schienen sich ihre Aussagen zu widersprechen. Weshalb wollte der falsche Pilger Luther töten? War der Mann ein Einzelgänger, ein streng religiöser Mensch, der an Luthers revolutionären Lehren Anstoß nahm? Oder handelte er im Auftrag von Bischof Brangenberg, wofür es ja Hinweise gab? Cranach hatte fast wohlwollend über Wulf Kramer gesprochen, beschrieb ihn als gebildeten Mann und Kunstliebhaber; er habe mit ihm längere Gespräche geführt, das sei ein kluger Kopf, besonders Kramers Frömmigkeit habe ihn beeindruckt. Diese müsse echt und aufrichtig sein, denn er stehe auf vertrautem Fuß mit den Erzählungen der Bibel, habe wiederholt aus der Heiligen Schrift zitiert, einen Psalm sogar auswendig vorgetragen, das sei keine Schauspielerei gewesen; auch verehre Kramer die Heiligen.
Ein ganz anderes Bild ergab sich aus Hannas
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