Die Lutherverschwörung
zusammen, denn er hatte seit Tagen kein vernünftiges Essen bekommen, die letzte warme Mahlzeit mochte eine Woche zurückliegen – ein einfacher Brei im Haus eines Bauern. Neben der Tür bemerkte Wulf eine steile, hohe Treppe.
Sie betraten einen Gastraum, in dem mindestens zwanzig Leute beim Essen saßen und durcheinanderredeten. Wulf konnte den Bratengeruch kaum noch ertragen; wenn er auf die Holzteller schaute, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. In diesem Moment hätte er für ein Stück Fleisch alles gegeben. Er zwang sich, den Blick vom Essen zu wenden und betrachtete die versammelte Gesellschaft.
Am Kopf des Tisches saß ein Mann mit grau meliertem Bart, dessen Gesichtszüge denen des jungen Mannes ähnelten: das Familienoberhaupt. Er beugte den Kopf so tief, dass er fast im Teller hing, und aß hingebungsvoll mit beiden Händen, von denen Fett troff. Wulf beobachtete, wie er mit sämtlichen Fingern braune, knusprige Fleischbrocken in den überfüllten Mund schob, während er gleichzeitig ruckartig kaute. Der Patriarch, völlig in seine Tätigkeit versunken, bemerkte weder seinen Sohn, noch würdigte er Wulf eines Blickes. Die zierliche Person nebenan, die ihm mit einem Seitenblick, in dem Ekel mitschwingen mochte, beim Essen zuschaute, war seine Frau, vermutete Wulf. Eine dunkelgrüne, mit Goldfäden durchwirkte Haube bedeckte ihr hochgestecktes Haar. Ihr Teller war fast leer, ohne dass es schien, als habe sie etwas gegessen. Sie sprach kein Wort und Wulf bemerkte, wie ihr Blick ihn durchdrang. Er fühlte sich plötzlich sehr unwohl in seiner Haut und es kam ihm vor, als durchschaue sie seine Verkleidung.
Fünf oder sechs Männer am anderen Ende der Tafel mochten enge Freunde oder Verwandte der Familie sein; zwei waren wie Adlige gekleidet, die anderen nach Art der Kaufleute. Alle sprachen gleichzeitig und fuchtelten stürmisch mit den Händen in der Luft herum. Einer schlug seinem Nachbarn, der ihn am Wams packte, auf die Finger; ein anderer, der ununterbrochen redete, obwohl sein Mund mit Braten und Brot randvollgestopft war, ließ in kunstvollem Bogen Essensbrocken auf die umstehenden Teller rieseln. Ansonsten saßen ein junges Paar am Tisch, ein alter Mann und viele Kinder. Wulf und sein Begleiter blieben neben dem Familienoberhaupt stehen, das aber nicht vom Teller aufschaute.
Seine Frau fasste den Patriarchen beim Arm. »Siegfried!«
Wie aus einem Traum erwacht, hob er den Kopf, zog die Brauen hoch und brummte: »Was ist?«
Sie zeigte auf Wulf. »Andreas hat einen Gast mitgebracht.«
Siegfried starrte Wulf mit offenem Mund an. »Wer ist das?«
»Woher soll ich das wissen?«, gab die Frau zurück. »Bin ich eine Hellseherin?«
»Warum wirst du immer gleich so aufbrausend?«
»Ich? Aufbrausend? Das ist wohl ein Witz!«
»Meine liebe Clothilde, wir sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet«, sagte Siegfried, »und ich weiß genau, wann du aufbrausend bist.«
»Ach was, du weißt gar nichts.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Genau so, wie ich es gesagt habe.«
Er wandte sich an den alten Mann, der das Gespräch mit sichtlicher Genugtuung verfolgte. »Vater, das alles habe ich dir zu verdanken.«
»Nicht vor den Kindern«, mahnte Clothilde.
Siegfried fasste Wulf ins Auge, dann seinen Teller, auf dem der Braten kalt wurde. »Wer seid Ihr und was wollt Ihr?«
»Esst weiter«, sagte Wulf. »Ich bin Kaufmann und habe eine lange Reise hinter mir. Sämtliche Herbergen sind belegt und ich suche privat ein Quartier. Ein einfaches Lager genügt – und wenn es im Kornspeicher ist. Ich stelle keine Ansprüche und zahle jeden Preis.«
Die letzten Worte machten den Familienvorstand hellhörig, und er legte den Kopf ein wenig zur Seite, um Wulf besser betrachten zu können. Auch der Blick seiner Frau wirkte nun gnädiger.
»Ich würde gerne helfen«, sagte Siegfried, »aber wir haben bereits Gäste im Haus.«
»Der Speicher ist gar keine schlechte Idee«, unterbrach seine Frau. »Wenn er damit zufrieden ist.«
»Meinetwegen. Aber wir können Euch lediglich eine Morgensuppe reichen und einen Schlaftrunk, um die übrigen Mahlzeiten müsst Ihr Euch selbst kümmern. Ein gutes Essen bekommt Ihr zum Beispiel im ‚Schwan‘ – oder Ihr geht in das Kaufhaus in der Kämmerergasse. Auch für Holz und Licht müsst Ihr selbst sorgen. Seid Ihr zu Pferd gekommen?« Wulf nickte, er hatte es für teures Geld in einem Stall untergebracht. »Einen Stand für das Pferd könnten wir Euch bieten,
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