Die Lutherverschwörung
Frauenfiguren wenden: Eine war prächtig gekleidet, ihre ganze Erscheinung strahlte Stolz und Würde aus; eine zweite trug eine Binde um die Augen; die dritte wirkte abstoßend, Kröten und anderes Ungetier in ihrem Rücken deuteten auf einen minderwertigen Charakter. Jost wusste, dass die schöne Frau für das Christentum stand, die blinde für das Judentum: Ecclesia und Synagoge; bei der dritten handelte es sich wahrscheinlich um »Frau Welt«.
Jost ging um den Dom herum, in dessen Innenraum ebenfalls Händler standen. Der Reichstag hatte Kaufleute und Gewerbetreibende aus allen Landesteilen angelockt. Ein Mann bot Falken zum Verkauf an, seine Nachbarin wertvolle Ledertaschen. Auf dem Pflaster und auf Holzböcken lagen Felle in verschiedenen Farben, Jost strich mit der Hand über ein Schaffell und fragte nach dem Preis, doch es war teuer. Schließlich blieb er neben einer Gruppe von Männern stehen, die erregt und lautstark diskutierten.
Eine zahnlose, alte Frau, die ihre hochgebundenen Haare unter einem fadenscheinigen Kopftuch verbarg, trug einen Holzkasten um den Hals, unterteilt in kleine Fächer. Darin lagen Druckschriften – sie war also eine Buchführerin. Auch zu ihren Füßen lagen Schriften: Einblattdrucke mit Holzschnitten, kleine Pamphlete und Broschüren. Bücher konnte Jost nicht entdecken. Eine der Holzschnitt-Illustrationen zeigte den Papst, unschwer an der Tiara zu erkennen, wie er auf dem Donnerbalken saß und jener Beschäftigung nachging, die keine Standesunterschiede kennt.
Jost ließ den Blick hin und her wandern, und ihm fiel auf, dass alle Überschriften sich auf Luther bezogen. Die Frau verkaufte Luther-freundliche Pamphlete, während andere Buchführer gerade irgendwo die päpstliche Propaganda unters Volk brachten. Eine dritte Gruppe von Buchführern, so wusste Jost, scherte sich nicht um den Inhalt und verkaufte die Drucke beider Parteien, solange sie Geld einbrachten.
Dass eine alte, gebrechliche Frau die Schriften vertrieb, war nicht ungewöhnlich, auch Kinder sah man häufiger. Der eigentliche Buchhändler blieb im Hintergrund und vertraute darauf, dass die Obrigkeit ein Auge zudrückte. Einer der Schaulustigen, ein Handwerker, hielt den Holzschnitt in die Höhe, der den Papst verunglimpfte. Er las das dazugehörige Spottgedicht vor und wurde mehrmals von lautem Lachen unterbrochen. Immer wieder deutete er mit dem Zeigefinger auf das Bild. In diesem Moment kamen drei spanische Söldner in voller Bewaffnung auf die Gruppe zu. Sie unterhielten sich in ihrer Landessprache und beachteten die Buchführerin nicht.
Jost sah sie von weitem kommen. Er hatte in Italien gegen Spanier gekämpft und großen Respekt vor ihnen. Die drei wirkten nicht streitlustig, sondern scherzten miteinander – bis der Erste von ihnen das Bild bemerkte.
Er blieb ruckartig stehen und hinderte mit ausgestreckten Armen seine beiden Kameraden am Weitergehen. Nun starrten alle drei auf den Papst: Die Illustration war groß genug, damit man auch von weitem sah, bei welcher Tätigkeit der Heilige Vater abgebildet wurde. Jost bemerkte in ihren Gesichtern zunächst Sprachlosigkeit, dann Entsetzen. Das Lachen innerhalb der Gruppe verstummte. Der Mann, der die Spottverse genüsslich zitiert hatte, ließ sehr langsam die Hand mit dem Blatt sinken, die Blicke der Umstehenden wanderten von ihm zu den Spaniern, in deren Augen Jost beispiellose Wut aufflackern sah. Er wusste, welchen Stellenwert der Papst für sie hatte: Sie fühlten sich in ihrem Glauben und ihrer Religion aufs Tiefste beleidigt und verletzt.
Der Söldner, der die Illustration zuerst bemerkt hatte, zog sein Schwert und seine Kameraden folgten dem Beispiel. Die Gruppe der Schaulustigen teilte sich und gab eine Bahn frei zur Buchführerin und zum Handwerker. Die alte Frau legte ihre Hände an das mit Falten und Runzeln überzogene Gesicht und begann zu weinen und um Gnade zu flehen.
Obwohl sich in Worms die obersten Herrscher und Richter versammelt hatten, herrschte in den Straßen der Stadt eine gewisse Anarchie. Seit Beginn des Reichstages hatte es schon mehrere Tote gegeben. Prügeleien und nächtliche Überfälle gehörten mittlerweile zum Alltag; niemand regte sich sonderlich darüber auf, nicht einmal die überforderte Obrigkeit, die sich wahrscheinlich mit dem Gedanken tröstete, dass bei einem Ereignis dieser Größe und Bedeutung ein gewisser Ausnahmezustand zur Normalität gehörte. Man sah zwar Bewaffnete durch die Gassen ziehen, um für Recht
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