Die Lutherverschwörung
Männer von Rang putzten sich heraus wie Pfauen.
Anna sah eine Gruppe von Schaustellern, die ein Stück aufführten. Neugierig blieb sie stehen. Einer der Spieler trug den Text vor, während drei weitere ihn pantomimisch begleiteten. Erst nach einer Weile begriff Anna, dass sie Szenen aus der berühmten Nibelungensage vortrugen und nachspielten. Siegfried wand sich gerade am Boden, von Hagens Speer durchbohrt, sie legten ihn auf eine Bahre und trugen ihn davon, danach erschien eine Frau.
»An diesem Tag aber«, sagte der Rezitator, »schwor Kriemhild Rache.«
Die Schauspielerin raufte sich ihr blondes, lockiges Haar, bis es wirr und wütend in alle Richtungen stand; ihre Verzweiflung wirkte so echt, dass Anna eine Gänsehaut bekam.
»Rache schwor Kriemhild und ein inneres Feuer verzehrte sie – so wie einst die griechische Zauberin und Königstochter Medea.«
Die Medea-Sage kannte Anna von ihrem Vater. Er hatte sie ihr einst aus den ‚Metamorphosen‘ des römischen Dichters Ovid vorgetragen.
»So stark war Kriemhilds Wunsch nach Rache«, fuhr der Rezitator in seinem Singsang fort, »dass viele Jahre ins Land zogen, ohne ihn zu löschen. Und um mächtig zu sein, heiratete sie einen König. Der sollte ihr helfen, Hagen zu töten, Siegfrieds Mörder.«
Einer der Schauspieler, auf dessen Kopf eine Papierkrone saß, kam herbei, kniete nieder und hielt um Kriemhilds Hand an, dann küssten sie sich und gingen gemeinsam davon. »In ein fernes Land ging sie mit ihm, ins Land der Hunnen, doch der Hunger nach Rache blieb …«
Anna setzte ihren Weg fort, sie kannte den Rest der Geschichte. Sie würde den Mann finden, der Martha entführt hatte, und selbst Rache nehmen. Anna war überzeugt, dass Wulf irgendwo in Worms auf eine Gelegenheit lauerte, um Luther zu töten, sie fühlte es – als gäbe es ein unsichtbares Bindeglied zwischen ihr und ihm. Er hatte sie und Martha in einer Weise gedemütigt, über die sie nicht hinwegkam. Deshalb durfte er nicht ungestraft davonkommen. Martha hatte seither Alpträume, und auch sie selbst würde das Kapitel erst abschließen, wenn er tot war. Aber wie konnte sie ihn finden?
Sie dachte an den Büchsenmacher, der für Brangenberg Waffen herstellte, und sie wusste, dass der Bischof mit seinem Hofstaat am Reichstag teilnahm. Also musste sie seine Unterkunft finden. Unschlüssig lief sie hin und her, bis ein Junge sie ansprach, der sich den einen oder anderen Albus als Fremdenführer verdiente; er sei aus Worms, sagte er, und könne sie herumführen und ihr die Sehenswürdigkeiten der Stadt zeigen.
Sie fragte ihn, ob er wisse, wo ein gewisser Bischof Brangenberg sein Quartier bezogen habe, und zu ihrer Überraschung kannte er nicht nur den Namen, sondern führte sie ohne Zögern ans Ziel. Vor einem stattlichen Hof angekommen, gab ihm Anna den gewünschten Lohn und der Junge machte sich zufrieden davon.
Da entdeckte sie in einiger Entfernung Jost, der ebenfalls das Gebäude betrachtete. Sie liefen aufeinander zu und umarmten sich. Eine Weile redeten beide durcheinander, sodass keiner den anderen verstand und Passanten den Kopf schüttelten. Um kein weiteres Aufsehen zu erregen, zog Anna Jost mit sich und bog mit ihm in eine kleine Gasse, wo es einen Gasthof gab, der ihr vorhin aufgefallen war. Er führte eine Eule im Wappen.
Die Wormser Wirtsleute profitierten mehr als jede andere Berufsgruppe vom Reichstag. Der Schankraum platzte förmlich aus allen Nähten – Menschen redeten, aßen zu Mittag, tranken Bier. Drei im Raum verteilte Balken stützten die hohe Holzdecke, und an einem hing, wie draußen neben der Eingangstür, eine kunstvoll aus Metall geformte Eule, die den Neuankömmling aus großen, geheimnisvollen Augen anstarrte. Die Theke bestand aus einer lang gestreckten, auf zwei Eichenfässern ruhenden Holzplatte, auf die der schmächtige Wirt in einem fort Bierkrüge stellte. Zwei Frauen, eine ganz schwarz gekleidet, die andere weiß, trugen sie zu den Gästen.
Alle Plätze waren belegt, aber Jost und Anna fanden in einer Nische beim Fenster eine Holzkiste, auf die sie sich setzten. Die Bedienung beachtete sie nicht, weshalb Jost an die Theke ging und zwei Krüge holte, die er gleich bezahlte. Auf der Kiste war wenig Platz und sie mussten eng zusammenrücken.
Anna trug seit Tagen etwas auf dem Herzen, wusste aber nicht, wie sie das Gespräch darüber beginnen sollte. »Hast du mittlerweile etwas Neues über Wulf Kramer herausbekommen?«, fragte sie.
»Zwei meiner Leute
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