Die MacGregors 05 - Stunde des Schicksals
verwirklichte – und mittlerweile war er überzeugt davon –, würde man sie mit »Doktor« ansprechen müssen, noch bevor das Jahr vorbei war. Für Anna war das nicht nur einfach ein Titel, für sie war das eine Lebenseinstellung. Konnte ein Mann, dessen Geschäfte so hohe Anforderungen an ihn stellten, so viel Zeit seines Tages beanspruchten, überhaupt eine Ehefrau haben, deren Beruf genau das Gleiche von ihr verlangte?
Wer würde sich um das Heim kümmern? Entnervt fuhr er sich durch das Haar. Wer würde die Kinder großziehen? Besser, wenn er ihr jetzt gleich den Rücken zukehrte und eine Frau fand, die damit zufrieden war, genau das zu tun, und nichts anderes im Sinn hatte. Besser, wenn er ihren Rat befolgte und sich keine Frau aussuchte, die gegen die eigenen Windmühlen kämpfte.
Er sehnte sich nach einem Heim. Es war schwer für ihn, sich einzugestehen, wie verzweifelt er sich danach sehnte. Er brauchte eine Familie – den Duft von frisch gebackenem Brot aus der Küche, von Blumen, die in Vasen standen. Das waren die Dinge, mit denen er aufgewachsen war. Dinge, auf die er schon viel zu lange hatte verzichten müssen. Er wusste nicht, ob er das mit Anna haben könnte. Und doch … Ohne sie, so glaubte er zu wissen, waren diese Dinge nicht mehr wichtig.
Diese verflixte Frau. Er sah auf die Uhr. Ihr Arbeitstag im Krankenhaus war fast vorbei. In etwas weniger als einer Stunde hatte er eine Besprechung auf der anderen Seite der Stadt. Fest entschlossen, sein Leben nicht nach dem Terminplan eines anderen Menschen auszurichten, setzte er sich wieder an den Schreibtisch und griff nach Bombecks Bericht.
Nach dem ersten Absatz warf er ihn hin. Schnaubend und fluchend stürmte er aus seinem Büro.
Sie war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen, und Anna sehnte sich nach einem heißen Bad und einem ruhigen Abend mit einem guten Buch. Vielleicht würde sie in der Wanne darüber nachdenken, wie sie ihre neue Wohnung einrichten sollte. In zwei Wochen würde sie die Schlüssel in der Hand halten. Wenn ihre Füße nicht so laut protestieren würden, könnte sie jetzt noch ein wenig in Antiquitäten- und Trödelläden schnüffeln. Aber erst einmal freute sie sich über das weiße Cabrio, das draußen auf dem Parkplatz auf sie wartete. Es bedeutete ihr mehr als nur die Erleichterung, nicht mehr nach Hause laufen zu müssen. Es bedeutete Unabhängigkeit.
Auf dem Weg aus der Klinik hinaus holte sie die Wagenschlüssel aus ihrer Handtasche und ließ sie in der Hand klingeln. Die Welt gehörte ihr! Anna hatte ihr Ego nie für übertrieben groß gehalten, aber als ihrem Vater beim Anblick des neuen Autos praktisch das Wasser im Mund zusammengelaufen war und er um eine Probefahrt gebeten hatte, war ihr das zu Kopf gestiegen. Endlich. Endlich hatte sie seine Zustimmung. Sie hatte ihr eigenes Geld benutzt, ihre eigene Wahl getroffen, und es hatte keinen Ton der Kritik gegeben. Sie sah wieder vor sich, wie er ihre Mutter am Arm aus dem Haus gezogen und auf den Rücksitz verfrachtet hatte. Fast eine volle Stunde war Anna durch Boston gefahren, ihre Eltern zufrieden und traulich vereint wie die Teenager im Wagenfond.
Endlich sahen sie in ihr etwas anderes als das kleine Mädchen, dem man immer noch die nächsten Schritte vorpredigen musste. Ob es ihnen schon bewusst geworden war oder nicht, aber sie hatten sie als erwachsene Frau akzeptiert. Vielleicht, dachte Anna jetzt, aber auch nur vielleicht, würden sie auch stolz sein, wenn sie ihr Examen in der Tasche hatte.
Schwindlig vor Glück über ihren Durchbruch warf sie die Schlüssel hoch und fing sie wieder auf. Sekunden später stieß sie mit Daniel zusammen.
»Du hast nicht aufgepasst, wo du hingehst.«
Sie war glücklich gewesen, aber jetzt war sie noch glücklicher, weil sie ihn sah. Fast hätte sie es ihm gesagt. »Nein, stimmt.«
Er hatte sich entschieden, wie er ab jetzt mit ihr umgehen würde. Auf seine Art. »Du wirst heute Abend mit mir essen.« Bevor sie antworten konnte, legte er die Hände um ihre Schultern. »Ich dulde keinen Widerspruch.« Er sprach so laut, dass einige Passanten sich schon nach ihnen umdrehten. »Ich bin diese ewige Streiterei leid und habe im Moment sowieso keine Zeit dafür. Du wirst mit mir essen. Ich hole dich um sieben ab.«
Es gab mehrere Möglichkeiten, wie sie reagieren könnte. In Sekunden war Anna sie in Gedanken durchgegangen. Sie wählte die eine, die er mit Sicherheit am wenigsten erwartete. »Einverstanden, Daniel«, sagte sie
Weitere Kostenlose Bücher