Die MacGregors 05 - Stunde des Schicksals
Bett. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Strauß roter Rosen. Frisch, wunderschön und herrlich duftend. Und neben dem Bett saß, wie ein Verehrer, Daniel MacGregor.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Anna nie gehen würde, ohne nicht vorher nach Ihnen zu sehen.« Daniel stand auf und bot ihr einen Stuhl an.
»Nein, natürlich nicht.« Verwirrt trat Anna ans Bett. »Sie sehen heute viel besser aus.«
Mrs. Higgs tastete über ihr Haar. Die junge rothaarige Schwester hatte ihr am Morgen geholfen, es zu bürsten. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute Herrenbesuch bekomme, hätte ich mich ein wenig hübscher gemacht«, sagte sie und warf Daniel ein geradezu schmachtendes Lächeln zu.
»Sie sehen bezaubernd aus«, versicherte er ihr und nahm ihre schmale Hand zwischen seine.
Er klang, als würde er es ernst meinen. Am meisten beeindruckte Anna, dass nicht der kleinste Anflug von gönnerhaftem Ton in seiner Stimme mitschwang, in den andere so oft verfielen, wenn sie zu den Kranken und Alten sprachen. In Mrs. Higgs’ Augen blitzte eine Mischung aus Dankbarkeit und Stolz auf.
»Es ist wichtig, so gut wie möglich auszusehen, wenn man einen Verehrer empfängt, nicht wahr, Anna?«
»Ja, natürlich.« Anna ging ans Fußende und versuchte unauffällig das Krankenblatt zu lesen. »Die Blumen sind wunderschön. Du hast nicht erwähnt, dass du ins Krankenhaus kommst, Daniel.«
Er zwinkerte Mrs. Higgs zu. »Ich liebe Überraschungen.«
»Ist es nicht nett von Ihrem jungen Mann, mich zu besuchen?«
»Er ist nicht …« Anna verstummte und sprach sanfter weiter. »Ja, das ist es.«
»Ich weiß, Sie beide haben sicher etwas vor, also werde ich Sie nicht aufhalten.« Mrs. Higgs drückte Daniels Hand. »Sie kommen doch wieder? Es war schön, mit Ihnen zu reden.«
Er hörte das Flehen, das sie so verzweifelt zu verbergen suchte. »Ich komme wieder.« Er beugte sich hinab und küsste sie auf die Wange.
Als er zurücktrat, rückte Anna Mrs. Higgs’ Kissen zurecht und machte es ihr bequemer. Daniel sah, dass Annas Hände nicht nur zart und weich und zum Küssen geschaffen waren, sondern auch geschickt und kräftig. Einen Moment lang war er verunsichert. »Sie sollten sich jetzt ausruhen. Sie dürfen sich nicht zu sehr anstrengen.«
»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Mrs. Higgs seufzte. »Ich wünsche Ihnen beiden noch viel Spaß.«
Als Anna und Daniel das Zimmer verließen, war sie schon fast eingeschlafen.
»Bist du für heute hier fertig?«, fragte er, als sie über den Korridor gingen.
»Ja.«
»Ich fahre dich nach Hause.«
»Ich bin mit Myra verabredet.« Wie immer war der Fahrstuhl gerade nicht da. Anna drückte auf den Rufknopf und wartete.
»Dann setze ich dich ab.« Er wollte sie für sich haben, außerhalb des Krankenhauses, wo sie so sachlich und professionell wirkte.
»Nicht nötig. Wir treffen uns nur ein paar Blocks von hier entfernt.« Zusammen betraten sie die Liftkabine.
»Geh heute Abend mit mir essen.«
»Das kann ich nicht. Ich habe etwas vor.« Annas Hände waren fest verschränkt, als die Tür wieder aufglitt.
»Morgen?«
»Ich weiß nicht, ich …« Sie war innerlich aufgewühlt. Als der Fahrstuhl hielt, trat sie in den Sonnenschein hinaus. »Daniel, warum bist du hergekommen?«
»Um dich zu sehen, natürlich.«
»Du warst bei Mrs. Higgs.« Anna ging weiter. Sie hatte den Namen nur einmal erwähnt. Wieso hatte er ihn sich gemerkt? Warum sollte ihn das interessieren?
»Hätte ich das nicht tun sollen? Ich glaube, sie hat sich über ein bisschen Gesellschaft gefreut.«
Kopfschüttelnd suchte Anna nach den richtigen Worten. Sie hatte nicht geahnt, dass er so freundlich sein konnte. Noch dazu, wenn es ihm gar nichts einbrachte. Schließlich war er Geschäftsmann, und in seinem Beruf ging es um Gewinn und Verlust. Die Rosen waren für ihn kein finanzielles Opfer, aber für Mrs. Higgs bedeuteten sie mehr, als man mit Geld kaufen konnte. Ob er das wusste?
»Dein Besuch hilft ihr mehr als jede Medizin, die die Ärzte ihr geben können.« Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. In ihren Augen konnte er den Tumult erkennen, der sich in ihrem Inneren abspielte, die stille Intensität der Gefühle, die ihn gefangen hielten und Antworten von ihm verlangten. »Warum hast du das getan? Um mich zu beeindrucken?«
Niemand würde es fertigbringen, in diese Augen zu sehen und zu lügen. Natürlich hatte er vorgehabt, sie zu beeindrucken, und war verdammt stolz auf sich gewesen, eine so
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