Die Macht der Angst (German Edition)
wünschte, ich könnte sie ganz übernehmen. Den harten Teil, den furchterregenden Teil. Doch das ist nicht möglich. Die Natur ist grausam.«
Liv fühlte sich noch immer steif an, darum drückte er sie fester an sich und streichelte ihren Rücken. »Bitte sei nicht sauer. Ich liebe dich so sehr, dass ich es kaum ertrage.«
Das zeigte Erfolg. Der Stahl in ihrer Wirbelsäule wurde biegsam, sie legte den Kopf zur Seite, damit er das Gesicht an ihrem Hals bergen konnte. Sean seufzte. Das Drama war abgewendet.
Eine Ehe war kompliziert. Das emotionale Äquivalent zu einem Profi-Basketballspiel. Jede Menge Schweiß, jede Menge Anstrengung. Aber wenn er den Ball dann im Korb versenkte, oh Mann. Der Lohn war so süß. Dafür lebte er.
Sean studierte einen Moment die zerschrammte, instabil wirkende Tür von Apartment 4F, dann klopfte er an.
Die Tür schwang durch den Druck seiner Knöchel mit einem Knarzen auf, das besser zu einer unheimlichen gotischen Villa gepasst hätte. Sean schob Liv hinter seinen Rücken und linste in die Wohnung. Sie war dem Erdboden gleichgemacht worden.
»Hier hat irgendjemand randaliert«, stellte er fest. »Warte eine Sekunde. Ich will mich vergewissern, dass niemand da ist.«
»Sean!«, stieß Liv nervös hervor. Sie wollte ihn am Rücken seiner Jacke festhalten, aber da war er schon durch die Tür geschlüpft.
Allem Anschein nach hatte jemand das düstere kleine Apartment in blindwütiger Raserei verwüstet. Sean schaute in das Badezimmer, dessen Boden mit Glas- und Porzellanscherben übersät war, der Spiegel zerbrochen, der Duschvorhang zerfetzt. Im Wohnzimmer waren die Möbel umgestürzt, überall lagen Papiere verstreut. Die mit Bildern, Fotos und Zeichnungen behangenen Wände waren mit roter Farbe besprüht. Er sah, dass die blutroten zerfließenden Buchstaben ein Wort ergaben: FREAK . Er zog Liv nach drinnen. »Die Luft ist rein«, sagte er.
Ein nervöser Laut drang aus ihrer Kehle, als sie sich in dem demolierten Zimmer umsah. »Glaubst du, man hat ihr etwas angetan?«
Sean betrachtete die verlaufenen Buchstaben. »Die Eindringlinge hätten keine Beleidigungen an ihrer Wand hinterlassen, wenn sie selbst hier gewesen wäre, um die Botschaft persönlich in Empfang zu nehmen«, meinte er. »Zumindest hoffe ich das. Offenbar sind wir die Ersten, die das hier sehen. Kein Absperrband. Die Tür war nicht verschlossen. Die Frau war nicht mehr hier, seit es passiert ist.«
Liv verzog gequält das Gesicht. »Dann steht ihr ein gewaltiger Schock bevor. Wir sollten die Polizei alarmieren.«
»Gleich. Zuerst will ich mich umsehen. Ich werde nichts anfassen.«
Liv stöhnte entnervt. Auf Zehenspitzen tapste Sean durch das Tohuwabohu, studierte die Skizzen, die an die Wand geheftet waren. Das Frösteln, das über seine Haut jagte, war so eisig wie der Wind, der durch das Fenster hereinwehte und die Zeichnungen zum Flattern brachte.
Auf mindestens jedem dritten dieser Bilder war Kev zu sehen. Es waren Porträts, Linienskizzen, Bewegungsstudien. Vollständige Handlungsszenen für die Comic-Romane, inklusive Sprechblasen. Trotzdem zeigten sie ohne jeden Zweifel seinen Bruder. Darauf hätte er sein Leben verwettet. »Diese Frau ist von Kev besessen«, stellte er fest.
»Vielleicht ist sie einfach nur in ihn verliebt«, wandte Liv naserümpfend ein. »Das ist ein schmaler Grat, wenn man es mit einem McCloud zu tun hat.«
Sean ließ sich diesen Kommentar durch den Kopf gehen und entschied, dass es eine Falle war und er besser sein vorlautes Mundwerk halten sollte, um keinen abrupten Anstieg von Schwangerschaftshormonen zu riskieren. Sie entwickelten die Kraft eines Gewittersturms, entwurzelten Bäume und kappten Kommunikationsleitungen. Er hasste das. Es war das eheliche Katastrophengebiet. Und Sean war oft verantwortlich. Er hatte ein besonderes Händchen dafür, diesen Tornado auszulösen.
Die Tür flog auf. Mit einem Ausfallschritt stellte Sean sich schützend vor Liv.
»Edie! Du bist wieder da!« Ein Junge stürmte ins Zimmer, auf seinem mageren, dunklen Gesicht ein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Doch es erstarb, sobald er die Besucher und den Zustand der Wohnung bemerkte. Er drehte sich blitzschnell um und schoss wie ein Pfeil davon.
Bevor der Junge aus der Tür stürmen konnte, erwischte ihn Sean am Arm. »Warte«, sagte er. »Du kennst Edie?«
»Wer zur Hölle sind Sie, Mann?« Der Junge wehrte sich mit verzweifelter Kraft und trat wie wild nach Seans Schienbeinen.
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