Die Macht der Angst (German Edition)
Er wollte es für wohltätige Zwecke stiften.« Sie zögerte. »Er schien mir ein sehr anständiger Mann zu sein.«
»Hmm«, murmelte Sean. »Na, wenigstens hat er keine finanziellen Probleme. Das ist doch schon mal was. Aber Poker? Lieber Himmel.«
»Wie war er sonst so?«, fragte Liv leise.
Dorotheas Miene wurde wachsam. »Er machte keinen besonders glücklichen Eindruck. Er sah aus, als ginge es ihm nicht gut. Er wirkte irgendwie verloren.«
»Er ist verloren«, sagte Sean. »Aber wir werden ihn finden. Ein für alle Mal.«
Sein Tonfall bewirkte, dass Dorothea ihn alarmiert anguckte, aber Liv fasste über den Schreibtisch und nahm die Hand der älteren Frau. »Wir würden ihm niemals schaden«, versicherte sie. »Sie erinnern sich an seine Narben?«
Dorothea nickte.
»Die hat er sich zugezogen, als er mir das Leben rettete«, erklärte Liv leise. »Wir lieben ihn, und wir vermissen ihn. Das ist unser einziges Motiv. Ich möchte, dass mein Sohn seinen Onkel kennt.«
Dorothea nickte. Sie rieb sich die Augen, dann suchte sie aus ihrem Schreibtisch ein voluminöses Adressbuch heraus. Sie blätterte darin, schnappte sich einen rosafarbenen Haftzettel und kritzelte etwas darauf. Sie streckte Liv die Notiz entgegen, wobei sie beunruhigt zu Sean schaute, als fürchtete sie, er würde wie ein tollwütiger Hund über den Tisch springen und ihr den Zettel entreißen.
Sean warf einen Blick darauf. Da war er. Der Nachname seines Bruders. Larsen. Herrgott. Wie einfallslos. Northwest Lenox Street. Seine Adresse. Wer hätte das gedacht? Dort lebte Kev, verloren in Zeit und Raum. Und jetzt hatte Sean ihn nach all den Jahren gefunden. Unfassbar.
Er war so aufgewühlt, dass ihm schwindelte. Sein Zentralnervensystem sandte ein bizarres Wirrwarr widersprüchlicher Emotionen aus: Freude, Angst, Zorn, Hoffnung. Er schaffte es kaum, das abschließende Geplauder und die Verabschiedung durchzustehen. Er hörte, wie Liv Dorothea bat, dafür zu sorgen, dass Jamal sicher nach Hause kam. Gelobt sei ihre Geistesgegenwart. Er hatte dieses Detail vollkommen verdrängt gehabt. Dann zog Liv ihn die Treppe hinunter und nach draußen zu ihrem Wagen. »Gib mir die Schlüssel«, verlangte sie streng.
Er schielte auf ihren Bauch, als er sie herausholte. »Aber du –«
»Ich kann trotz Schwangerschaft fahren.« Sie nahm die Schlüssel und schubste ihn auf die Beifahrerseite. »Sei still und steig ein.«
Einen Moment lang blieben sie schweigend sitzen, jeder in seinen eigenen Gedanken versunken. Nachdem Liv den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte, verschränkte sie noch einmal die Finger mit seinen und drückte sie, ehe sie den Motor startete. Sean erwiderte die Geste, dankbar für Livs Wärme, ihre Unterstützung, ihre Liebe, die in tröstlichen Wellen von ihr abstrahlte und direkt auf ihn übergriff. Sie schaltete das Navi an und gab Kevs Adresse ein.
Sean konzentrierte sich einfach nur darauf, nicht durchzudrehen. Klar, er konnte Liv problemlos auf die Arme heben und sie mehrere Stockwerke hochtragen, aber wenn es um wirklich entscheidende Dinge ging, war er rettungslos verloren.
Dann musste sie ihn tragen. Und das jedes verdammte Mal.
25
»Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie sich trotz Ihres vollen Terminkalenders heute Morgen Zeit für uns nehmen, Mr Parrish.« Avas rauchige Stimme triefte vor Emotion. »Des sagte mir, dass dies eine schwierige Phase für Ihre Familie ist, darum bin ich umso dankbarer.«
Charles Parrish warf Des einen vielsagenden Blick zu und blätterte dann durch den dicken Ordner, der auf seinem Schreibtisch in dem riesigen luxuriösen Büro des Helix-Hauptgebäudes lag. »Es scheint sich um ein faszinierendes Projekt zu handeln«, räumte er in bärbeißigem Ton ein. »Kompliment.«
Ava murmelte ihren Dank, augenscheinlich verlegen über die Aufmerksamkeit des obersten Bosses, der ihr Vorhaben absegnen oder ablehnen konnte. Wie diesem Drecksack Tag für Tag einer abgehen musste, angesichts der Macht, die er über Menschen ausübte. Blöder Wichser.
»Ava hat erstaunliche Ergebnisse in Bezug auf das neuronale Interface erzielt«, erklärte Des. »Die Neuroprothesen-Regler bedeuten eine erhebliche Verbesserung bei der Behandlung und Therapie von Patienten mit Hirn- und Rückenmarksverletzungen. Diese Forschung wird den Wert und das Prestige von Helix auf ein nie gekanntes Niveau heben.«
»Ja, ja«, antwortete Charles Parrish gereizt und massierte sich die Schläfen. »Das ist sehr
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