Die Macht der Angst (German Edition)
explosiv und zerstörerisch ihr Zorn ist. Das Letzte, was Ronnie momentan braucht, sind weitere Beispiele für mentale Instabilität und Rebellion. Aus reiner Gewohnheit widersetzt du dich mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ronnie muss das nicht mitbekommen.«
Ich widersetze mich dir, weil ich es muss, Dad. Um zu überleben
.
Edie behielt die Worte für sich. Ihr Vater würde darin nur eine gehässige Retourkutsche sehen. Er konnte die qualvolle Wahrheit dahinter nicht erkennen.
Arme Ronnie. Sie versuchte nicht, ihn mit ihren Böllern zu bestrafen, sondern sie liebte einfach Dinge, die farbenprächtige Funken sprühten und laut knallten. Sie teilte sich mit Edie das zweifelhafte Vergnügen, ausgerechnet in die spießige Parrish-Familie hineingeboren worden zu sein.
»Würde es dir etwas ausmachen, das Thema auf sich beruhen zu lassen?«, fragte ihr Vater. »Es verdirbt mir das Essen.«
Edie nickte und schob den restlichen Salat auf ihrem Teller umher. Nur das Klappern von Besteck unterbrach die erdrückende Stille.
Als sie die Mahlzeit fast beendet hatten, sah sie den arroganten jungen Mann von gegenüber an ihrem Tisch vorbeistolzieren. Er hatte seinen Teil gesagt und sah nun zu, dass er Land gewann. Edie warf einen Blick zu dem Mädchen, dem die Tränen übers Gesicht liefen und das die Hand vor den Mund gepresst hatte. Es sah aus, als müsse es sich jeden Moment übergeben.
Als das Mädchen aufstand, um zur Toilette zu eilen, streckte Edie die Hand aus und hielt es am Arm fest. »Warten Sie«, sagte sie.
Ihr Vater schnappte nach Luft. »Edith!«, zischte er. »Um Himmels willen –«
»Es wird ein Mädchen«, platzte Edie hervor und sah der jungen Frau in die aufgerissenen, tränennassen Augen. »Ein wunderschönes, blondes kleines Mädchen. Dieser selbstsüchtige Mistkerl ist nutzlos für Sie. Er hat seine Arbeit getan, für mehr taugt er nicht. Werfen Sie diesen Ballast ab, und schauen Sie in die Zukunft.«
Dem Mädchen fiel die Kinnlade runter. Ihre Miene drückte Staunen, Angst, Schock, Nervosität aus. Das Übliche.
Edie ließ ihre Hand los. Die schwangere junge Frau wich zurück, dann schwankte sie auf unsicheren, wackligen Beinen davon.
Oje. Es war unklug gewesen, das in Gegenwart ihres Vaters zu tun. Auch ohne seine Gegenwart wäre es unklug gewesen. Aber Edie hatte nie eine Wahl. Es war einfach … aus ihr herausgeströmt. Vollkommen unfreiwillig. So lief es immer ab.
Edie fixierte die Balsamessig-Tropfen auf ihrem Teller, die geriffelten Blättchen Rucola und Römersalat, die daran klebten. Sie mied den Blick ihres Vaters, denn sie musste seinen Zorn, seine Verachtung nicht erst sehen. Beides hatte sich schon vor Jahren in ihr Bewusstsein gebrannt. Und der Ausdruck änderte sich nie.
»So. Du leidest also noch immer an deinen Wahnvorstellungen.« Seine Stimme war kalt und tonlos. »Ich werde gleich morgen früh einen Notfalltermin bei Dr. Katz für dich vereinbaren. Solltest du nicht hingehen, wird das Konsequenzen nach sich ziehen. Weil genau das passiert, wenn du deine Medikamente nicht einnimmst.«
Die Erfahrung hatte Edie unzählige Male gelehrt, dass ihre Wahrnehmungen keine Wahnvorstellungen waren. Sie hatten sich nicht ein einziges Mal als falsch oder irreführend entpuppt. Doch dieser Einwand würde wie immer auf taube Ohren stoßen.
»Ich brauche keine Medikamente«, wiederholte sie kraftlos.
In Wahrheit zeigten die Tabletten tatsächlich Wirkung – in gewisser Weise. Sie versetzten Edie in einen Zustand emotionaler Abgestumpftheit und blockten die Ätherwellen ab, sodass sie keine Privatnachrichten aus den Köpfen anderer Menschen mehr empfing. Außerdem töteten sie – Überraschung, Überraschung – ihren Drang zu zeichnen ab. Edie hasste die Tabletten.
»Versprich mir, dass es auf dem Empfang keine Szene wie die gerade eben geben wird«, verlangte ihr Vater.
»Ich werde dich nicht blamieren, Dad«, versprach sie dumpf.
Doch es ließ sich nicht vorhersagen, ob sie sich daran würde halten können. Es war nicht ihre Entscheidung. Sie hätte sich diese Bürde schließlich niemals freiwillig auferlegt. Ständig verurteilt, isoliert und bestraft zu werden. Ronnie nie sehen zu dürfen.
Ihr Vater senkte den Blick auf die Tischplatte, dann fuhr er zusammen, als hätte ihn jemand mit einer Nadel gepikt. »Um Himmels willen, Edith! Hör sofort damit auf!«
Edie erschrak. Der Füller, den sie vollkommen unbewusst zur Hand genommen hatte, kollidierte mit dem Kelch ihres
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