Die Macht der Angst (German Edition)
»Und? Wie war es?«
Er seufzte hörbar. »Schrecklich. Er trug eine Augenbinde. Sein Körper war mit Steinen bedeckt. Er lag auf einem steinernen Altar, bewacht von irgendeinem gigantischen Insekt, das dort sein Nest hatte. Können meine Träume noch schlimmer werden?«
»Ich weiß, was du meinst.« Liv wählte diesen vorsichtigen Ton, den auch seine Brüder immer anschlugen, wenn sie ihn zu beschwichtigen versuchten, weil er einen seiner Koller hatte.
Er hasste diesen Tonfall bei Con und Davy. Und er hasste ihn bei seiner Frau.
»Klingt nach einem Motiv auf einer Tarotkarte«, überlegte Liv laut. »Woher wusstest du, dass es Kev ist, wenn er mit Steinen bedeckt war und eine Augenbinde trug?«
»Ich wusste es einfach. So ist das nun mal in Träumen.«
»Ja.« Liv drückte einen Kuss auf seine Schulter. »Aber, Sean? Hast du dir schon mal überlegt, dass es in diesen Träumen gar nicht um Kev gehen könnte?«
»Was meinst du? Um wen denn sonst?«
Er spürte ihr Zögern, die Bedächtigkeit, mit der sie ihre Worte wählte, um ihn nicht aufzuregen. Er knirschte mit den Zähnen. »Diese Träume verfolgen dich nun seit etwa vier Monaten«, sagte sie vorsichtig.
»Nein. Diese Träume verfolgen mich seit achtzehn Jahren, Liv. Seit Kevs Verschwinden. Und als wir herausfanden, dass es gar nicht er war in diesem Grab …« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass er nicht tot ist.«
»Das ist mir klar. Aber Albträume, aus denen du schreiend erwachst? Das ist neu.« Sie küsste ihn wieder auf die Schulter. »Ich sollte dich darauf hinweisen, dass sie etwa zu dem Zeitpunkt anfingen, als ich von der Schwangerschaft erfuhr.«
Sean versteifte sich. »Du denkst, darum geht es?« Seine Stimme war so gepresst, dass er das Gefühl hatte, seine Kehle würde implodieren.
»Werd nicht gleich sauer, sondern zieh es einfach mal in Betracht. Ich habe gelesen, dass Traumbilder selbstreferenziell sind. Von wem auch immer der Traum handelt, was auch immer die Personen darin tun, steht meist mit einem selbst, den eigenen Gefühlen, den eigenen Sorgen in Zusammenhang.«
»Das mag auf die meisten anderen Leute zutreffen, aber für mich und diese Träume gilt das nicht.«
»Nein? Und wieso nicht?«
»Aus einer Vielzahl von Gründen!« Sean brach ab und versuchte, seine Stimme zu senken. »Kev hat mich geweckt, als Gordon dich entführte. Er hat mich daran gehindert, mich von einer Klippe zu stürzen. Das sind nicht irgendwelche Bagatellen, die mit meinen Sorgen in Zusammenhang stehen, Liv!«
»Ich habe nie behauptet, dass es Bagatellen wären«, wies Liv ihn leise zurecht. »Aber könnten diese Begebenheiten nicht auf dich selbst zurückzuführen sein? Auf dein eigenes Bewusstsein, deine eigene Intelligenz? Deine eigene Psyche, die sich Kevs bedient, um deine Aufmerksamkeit zu erringen?«
»Nein.« Sean wies diese Idee mit vehementer Endgültigkeit von sich. »So könnte es nicht sein.«
»Sean, bitte. Ich will doch nur –«
»Du denkst, ich habe Angst, weil wir ein Kind erwarten?« Seine Stimme war rau. »Du denkst, ich fürchte mich vor der Vaterschaft, Liv? Dass ich mich fühle wie unter einem Steinhaufen begraben? Zu was macht dieser Traum dich dann? Zu dem Monster? Einem gigantischen Insekt, das sein Männchen nach der Paarung auffrisst? Herrgott, Liv! Für was für einen feigen Schlappschwanz hältst du mich eigentlich?«
Sie nahm die Hände weg. »Tja, dann scheinst du um einiges mutiger zu sein als ich«, konterte sie schnippisch. »Weil ich nämlich sehr wohl Angst habe. Ich träume immer wieder, dass ich das Baby in einer öffentlichen Toilette oder auf dem Sitz eines Stadtbusses vergesse. Aber das bedeutet wohl nichts weiter, als dass
ich
ein feiger Schlappschwanz bin.« Sie schwang die Beine über den Bettrand. »Nun, dann ist es eben so.«
Sean streckte blitzschnell die Arme aus und legte sie um ihren Babybauch, bevor Liv aus dem Bett schlüpfen konnte. »Nein. Hör auf damit.«
»Hör
du
auf damit.« Als sie nach seinen Armen schlug, spürte Sean, wie aufgebracht sie war, doch er hielt sie in seinem eisernen Griff gefangen, wobei er sorgsam darauf achtete, keinen Druck auf ihre kostbare Kugel auszuüben.
Sie konnte sich wehren und mit den Fäusten auf ihn eintrommeln, so viel sie wollte, er würde sie nicht loslassen. Auf keinen Fall. Er wusste, was gut für ihn war.
Endlich gab sie ihren Widerstand mit einem ärgerlichen Seufzen auf. Sean nutzte die Gelegenheit, um sie wieder aufs Bett zu ziehen und sie auf
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