Die Macht der Angst (German Edition)
blickten seine großen Augen furchtsam und traurig. Neben einem Spalt in der Klippenwand hielt es inne. Es bückte sich, dann verschwand es in einem strampelnden Wirrwarr dürrer Beine und schmutziger kleiner Füße.
Sean folgte dem Mädchen, gebunden an die drückende Zwangsläufigkeit, die daraus resultierte, das Ganze schon einmal geträumt zu haben. Dieses erstickende Gefühl der Unwissenheit war entsetzlich vertraut. Wie ein schwerer Felsbrocken lastete es auf seinem Bewusstsein und hüllte das Zentrum seines Seins in pechschwarze Finsternis. Es raubte ihm die Wahrnehmung für Zeit und Raum, sodass er hilflos durch die Dunkelheit irrte.
Der Tunnel schlängelte sich abwärts, dann mündete er in eine Kaverne. Unendliche Weite umgab ihn. Eine kathedralenartige Höhlendecke, deren Stützpfeiler aus knorrigen Stalaktiten und Stalagmiten bestanden. Sie glichen einem Wald bleicher, missgestalteter Bäume, die wie radioaktive Tumoren in der Dunkelheit leuchteten. Sean nahm das gemächliche Tröpfeln von Wasser, den Gestank von Fledermausexkrementen wahr.
Die Angst schaukelte sich in ihm hoch, trotzdem musste er weitergehen und die Sache durchziehen. Der Pfad beschrieb eine Kurve, anschließend führte er durch ein kleines Dickicht toter, weißer Calcit-Säulen.
Vor ihm öffnete sich eine Lichtung, in deren Mitte ein Steinblock aufragte. Flackernde Fackeln bildeten einen Ring um ihn, und der rötliche Schein der tanzenden Flammen leckte mit bösartiger Gier über den Mann, der wie ein heidnisches Menschenopfer auf dem Altar lag.
Steine türmten sich auf seinem Oberkörper. Nur seine ausgestreckten Arme und Beine sowie der Kopf waren zu sehen. Das massive Gewicht musste ihn getötet, seine Lungen zerquetscht, seine inneren Organe zermalmt haben. Sein Gesicht war zur Seite gewandt. Er trug eine Augenbinde. Das Einzige, was Sean erkennen konnte, waren ein spitzer Wangenknochen und mattes, aschblondes Haar.
Zwischen den Steinen vor dem Altar klaffte ein Loch. Etwas bewegte sich darin. Sean hörte ein Knirschen, ein säuselndes Krächzen. Nichtmenschliche Augen glitzerten in der Öffnung, dann waren sie verschwunden, bevor er sich einen Reim darauf machen konnte.
Etwas Monströses, Grässliches lauerte dort. Etwas … Hungriges.
Plötzlich streckte sich ein haariges, mehrgliedriges Bein hervor und tastete mit seiner gekrümmten Klaue umher. Das säuselnde Krächzen wurde lauter.
Seans Herz hämmerte wie wild, trotzdem konnte er nicht weglaufen. Er fasste nach dem erstbesten der Steine, die seinen Bruder unter sich begruben, als die Kreatur mit den schillernden Augen aus dem Loch sprang und mit ihren krallenbewehrten Beinen nach Seans Gesicht peitschte –
Er fuhr mit einem Ruck hoch und rang nach Luft. Sein Herz raste. Er keuchte so heftig wie nach einem harten Sprint. Die Träume über seinen verlorenen Zwilling nahmen an Häufigkeit und Intensität zu. Die schlechten Nächte machten ihm gewaltig zu schaffen. Als hätten sie nicht schon genug damit zu tun, die Konsequenzen, die ihr Erlebnis mit diesem psychopathischen Wissenschaftler Christopher Osterman nach sich gezogen hatte, zu bewältigen. Sie durften sich glücklich schätzen, die Sache lebend und mehr oder weniger geistig gesund überstanden zu haben.
Sie hatten sich halbwegs davon erholt gehabt, waren überzeugt gewesen, das Schlimmste hinter sich zu haben, und jetzt das: Seine heimtückischen Albträume waren zurück.
Liv regte sich neben ihm und hob den Kopf. Sie schob sich die vom Schlaf verstrubbelte dunkle Mähne aus dem Gesicht, dann berührte sie seine Schulter, stellte ihm eine wortlose Frage.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.« Seine Brust war so eng, dass er die Worte kaum herausbekam.
Liv setzte sich auf, zog die Beine an und legte unbewusst eine Hand auf ihren Babybauch. »Schon wieder ein Albtraum? Der gleiche, vermute ich?«
Sean nickte bestätigend, dann rollte er sich zusammen, versuchte, sich zu verkriechen wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. »Dieses Mal bin ich weiter in die Kaverne vorgedrungen.«
»Hm. Das ist gut.«
Er stieß ein harsches Lachen aus. »Ach ja? Findest du?«
Sein verächtlicher Ton bestürzte sie. »Entschuldige. Es war einfach nur so dahingesagt.«
Sean hätte sich ohrfeigen mögen. »Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Ich hätte dich nicht so anfahren dürfen.« Er zwang sich weiterzusprechen. »Dieses Mal habe ich ihn gesehen.«
Liv musste nicht erst fragen, von wem er sprach.
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