Die Macht der Angst (German Edition)
weglaufen. In einer billigen Bruchbude leben und die am Hungertuch nagende Künstlerin mimen. Obwohl sie all das hier hatte. Es war wie eine Ohrfeige.
Diese dumme, scheinheilige, verlogene, maßlose kleine
Schlampe
.
Ava konnte sich das ratschende Geräusch im ersten Moment nicht erklären. Sie starrte auf den Rock des schulterfreien, aus dunkel schimmerndem, goldfarbenem Chiffon gefertigten Nachmittagskleids von
Armani.
Stoffblüten zierten das Dekolleté. Die Empire-Taille hing in Fetzen von dem Mieder. Sie hatte sie abgerissen. Ihre Hände zitterten. Sie zwang sich, zu atmen und von dem Kleiderschrank wegzutreten. Ihre Beine und Füße waren wie aus Gummi. Die Erde erbebte unter ihr. Das Bett kippte nach oben und fing ihren Sturz ab.
Sie sank tief in die dicke, luftige Daunendecke.
Ava blieb einfach liegen, drückte die Ledertasche an ihre Brust und wünschte sich, das Bett würde aufhören zu rütteln und zu schwanken. Sie starrte durch die Dachfenster zum Himmel. Vielleicht würde sie Edie eins dieser Kleider anziehen. Irgendein helles, hochzeitliches, damit das Blut auch richtig zur Geltung kam. Zu schade, dass sie keine Perlenketten hatte, um sie der Prinzessin anzulegen. Oder eine Tiara. Wie bei einer Prinzessinnen-Barbie.
Ava lächelte verträumt, während sie es sich ausmalte. Das wilde Haar, der duftige Rock, das helle Kleid. Die Schreie. Ihre Arme blutrot bis zu den Ellbogen, während sie das lange Messer umklammerte.
Es fügte sich alles perfekt zusammen. Immerhin war Edie verrückt. Das sagten alle.
»Also machen wir die lichtempfindlichen Fotochips in den Überwachungskameras mittels Laser platt. Anschließend werfen wir ein paar Granaten, während du über die Mauer springst, ins Haus rennst und Edie holst. Wir sprengen ein Loch in die Mauer, damit ihr auf dem Rückweg nicht darüber klettern müsst. Wir halten ein Fluchtfahrzeug bereit. Ganz einfach. Richtig?«
Kev hob den Kopf, schaute Miles nachdenklich an und versuchte dabei, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Dein Plan gefällt mir«, bemerkte er. »Er ist mutig und tollkühn. Das einzige Problem ist, dass die eine Hälfe von uns bei der Ausführung umkommen und die andere Hälfte für dreißig Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis landen wird. Und sie hätten allen Grund, uns dorthin zu schicken.«
»Oh.« Miles ließ die Schultern hängen. »Tja, ich wollte nur helfen.«
Kev schob sich das vor Schweiß starre Haar aus der Stirn. »Ich wünschte, sie würde endlich rangehen«, brummte er ungehalten. »Machen die gerade ein Nickerchen? Und das heute? Herrgott.«
Er ließ das Gesicht wieder in die Hände sinken. Er ertrug es nicht, im Mittelpunkt von so viel Aufmerksamkeit zu stehen. Plötzlich war er sich seiner Narben überdeutlich bewusst. Und der Gefühle, die diese visuelle Erinnerung an vergangenen Schmerz bei seinen lange verloren geglaubten Brüdern hervorrief. Er selbst war schon vor Jahren darüber hinweggekommen, aber sie mussten es noch verarbeiten, so als wäre es gerade erst passiert.
Und sie hatten damit zu kämpfen. Das war klar zu erkennen.
Sie hatten seit dem Kampf in seiner Wohnung nicht viel gesprochen. Es herrschte die stillschweigende Übereinkunft, Kev zumindest so lange nicht mit Fragen zu löchern, bis die drohende Gefahr von Tod und Verstümmelung überstanden wäre. Doch wenn es so weit war, konnte er sich auf etwas gefasst machen. Was für eine enorme Bürde. Achtzehn verlorene Jahre.
Verstandesmäßig erfassten seine Brüder die Sache mit Kevs Amnesie. Doch in ihren Herzen waren sie noch immer stinkwütend, und das konnte er ihnen nicht einmal verübeln.
Es war keine große Hilfe, dass ihnen, kaum dass sie ihn gefunden hatten, die Welt um die Ohren geflogen war, und das buchstäblich. Ein echt beschissener Auftakt für eine herzergreifende, emotional aufgeladene Familienzusammenführung. Aber das war nun mal genau sein Stil.
Jedes Mal, wenn er Con oder Davy anschaute, begann er zu zittern. All die vielen Jahre. All die vielen Ebenen der Trauer, der Wut und des Zweifels. All die vielen Dinge, die er nicht über sie wusste, die er verpasst hatte und niemals wissen würde. Es war atemberaubend. Kev kam nicht damit klar. Das Einzige, was er tun konnte, war, den Kopf unten und die Augen geschlossen zu halten. Sich allem zu entziehen.
Zum Glück verstanden sie es alle, ihre Gefühle beiseitezuschieben, solange es einen Job zu erledigen galt. Sie waren eben würdige Söhne des verrückten Eamon McCloud.
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