Die Macht der Angst (German Edition)
brauchte sie doppelt so lange wie sonst, um sich die Krone aufzusetzen. Dabei bemerkte sie, dass die rote Farbe die Blässe und die Makel in ihrem ramponierten Gesicht noch hervorhob. Zumindest verbarg sie ihre derangierte Frisur. Des war in solcher Eile gewesen, nachdem er sie aus dem Lagerraum befreit hatte, dass er ihr nicht einmal die Zeit gegeben hatte, sich das Gesicht zu waschen und die Haare zu kämmen. Sie waren sofort davongestürzt, um nach der Pfeife dieses fetten Tom Bixby zu tanzen. Ihm die Füße zu lecken wie brave, gehorsame Hunde.
Sie hielten vor dem Tor. Der Wachmann schaute Des an. »Guten Abend, Mr Marr. Wer ist Ihre Begleitung?«
»Das ist Dr. Ava Cheung«, erklärte Des. »Sie ist diejenige, die … nun ja, sie war heute Morgen zusammen mit mir in Charles’ Büro. Als es passierte.« Des winkte den Mann näher. »Ich möchte hier sein, für Ronnie und Edie, aber ich konnte Ava nicht allein lassen«, flüsterte er hörbar. »Sie wurde traumatisiert, und sie hat hier in der Stadt keine eigene Familie. Ich dachte, wir könnten alle … zusammen trauern. Natürlich verstehe ich, wenn Evelyn oder der Chef des Sicherheitsdienstes ein Problem damit haben.«
Der Mann spähte ins Innere zu Ava. Sie gab ihr Bestes, um einsam, kummervoll und traumatisiert zu wirken. Tatsächlich bereitete es ihr nicht viel Mühe.
»Einen Moment bitte.« Der Mann trat vom Wagen weg, murmelte etwas in sein Walkie-Talkie und winkte sie dann durch. »Sie können passieren.«
»Du bist wirklich ein hervorragender Lügner«, stellte Ava fest, als Des den Wagen parkte.
Er schaltete den Motor aus. »So haben wir alle unsere Talente.«
Sie wurden an der Tür von Evelyn Morris, Charles Parrishs biestiger älterer Schwester, und Tanya, ihrer kuhgesichtigen Dumpfbacke von einer Tochter, in Empfang genommen. Des stellte die Damen einander vor, nicht ohne auf das von Ava erlittene grauenvolle Trauma hinzuweisen.
Sie bekamen feuchte Augen. »Ach, Sie armes Ding«, seufzte Evelyn.
Ava ließ ihre Lippen und ihr Kinn zittern. Anschließend ihre Kehle und ihre Brust. Kurz darauf wurde sie von unbeherrschten Schluchzern geschüttelt. Weinend umarmte die ältere Frau sie. Dann kam auch ihre Tochter heulend und schniefend in Fahrt, sodass Ava sich in einer tränenfeuchten, schluchzenden Gruppenumarmung wiederfand. Lieber Himmel, wie lange musste sie das durchstehen? Sie fing über die bebenden Schultern der beiden Frauen Desmonds ironischen Blick auf und zog die Brauen hoch. Ja, sie hatten alle ihre Talente.
Aber ein paar Menschen waren einfach reicher gesegnet.
Nachdem sie diese ermüdende Geduldsprobe hinter sich gebracht hatte, spürte Ava eine sanfte Berührung an der Schulter. Ein dicklicher, bebrillter Mann mittleren Alters lächelte sie an. »Verzeihung, Dr. Cheung. Ich bin Dr. Katz, der Hausarzt der Familie. Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas gebe? Damit Sie sich ein wenig entspannen können?«
Auf keinen Fall. Wenn sie ein Sedativum nähme, könnte sie die Masterkrone nicht bedienen, und das wäre eine Katastrophe. Sie schnäuzte in ein Taschentuch, dann bedachte sie ihn mit einem tapferen, flatternden Lächeln. »Ich danke Ihnen, Doktor, aber ich muss diese Sache mit klarem Kopf durchstehen.«
»Sie sind sehr couragiert«, bemerkte Dr. Katz pathetisch.
»Danke«, murmelte Ava mit gesenktem Blick.
»Wie geht es Edie und Ronnie?«, erkundigte sich Des. »Ruhen sie sich aus?«
Evelyn schüttelte den Kopf und presste die Knöchel auf ihren bebenden Mund. »Edie ist weg.«
Ava und Des starrten sie an. »Weg?«, stieß er hervor. »Wo ist sie hin?«
»Wir haben keine Ahnung.« Evelyns Stimme wurde schärfer. »Sie hat die arme Ronnie zu einem Ablenkungsmanöver verleitet, das uns alle zu Tode erschreckt hat. Anschließend ist sie über die Mauer gesprungen, hat ein Auto gestohlen und ist verschwunden.«
Ava blinzelte. Der trübsinnigen Edie, jedermanns Lieblingsprügelknaben, hätte sie solche Tatkraft gar nicht zugetraut. »Sie ist ganz allein dort draußen?«, keuchte sie. »Während dieser mordlüsterne Irre frei herumläuft? Des, wir müssen uns an ihre Fersen heften!«
»Ja, unbedingt! Evelyn, kann ich mit Ronnie sprechen?«, fragte Des mit dringlicher Stimme. »Falls sie getürmt ist, um diesen Mann zu treffen, müssen wir uns beeilen!«
Evelyns Miene war zweifelnd. »Ich konnte überhaupt nichts aus ihr herausbekommen. Aber gehen Sie ruhig nach oben, sehen Sie, was Sie mit ihr anfangen können. Zweite Etage,
Weitere Kostenlose Bücher