Die Macht der Angst (German Edition)
ein.
Den kleinen Engel.
Er versuchte, ihn nicht zu oft zu benutzen. Seinen Talisman zu stark zu strapazieren würde diesem seine Magie, seine Schutzfunktion rauben. Schon indem er zu oft an ihn dachte, konnten falsche Erinnerungen die wahren, reinen überlagern.
Es funktionierte, wie immer. Kev schaute in diese klaren, ernsten Augen, und die dröhnenden Querschläger der Verzweiflung verstummten. Er verspürte Erleichterung, das Aufwallen irrationaler Freude. Es war wie ein kühler Regen auf einem fiebernden Gesicht.
Sein Geist fand seinen Fokus. Die statischen Geräusche, die von außen auf ihn einprasselten, wurden zu verständlicher Sprache. Sätze, die wie Pingpongbälle über ihm hin- und hergeschmettert wurden. Stimmen, die er sehr gut kannte.
»… ausgemachter Schwachsinn«, bemerkte eine grimmige Stimme. »Sie erteilen einem in einer wissenschaftlichen Einrichtung keinen Unterricht in Foltertechnik.« Das war Tony, dieses harsche, von Zigaretten und Alkohol raue Raspeln.
Heftige, aufwühlende Emotionen stürmten auf Kev ein. Unfreiwillige Zuneigung, gepaart mit Zorn und Verbitterung. Dieser bärbeißige alte Haudegen. Durch den mentalen Ruck legte sich der Schalter um und stellte die Verbindung wieder her. Er konnte sich jetzt bewegen. Seine Lider flatterten.
»… aber natürlich«, antwortete Tony der anderen anwesenden Person. »Der Junge war schon immer eine Plage, schon seit ich ihn gefunden habe.«
»Du hättest den Gangster sein Werk zu Ende bringen lassen sollen«, platzte er heiser hervor. »Doch das hast du nicht.« Er öffnete die Augen und heftete sie auf Tonys Gesicht.
Der Mann starrte auf ihn herab, seine Augen schmal hinter den dunklen Tränensäcken. »Komm mir bloß nicht frech, Junge«, knurrte er. »Auch ein Koma ist dafür keine Entschuldigung.«
Kevs Mundwinkel zuckten. Tonys Miene blieb ungerührt. Auf keinen Fall durfte er sich dazu hinreißen lassen zurückzulächeln. Nachgiebigkeit war tödlich. So lautete sein unausgesprochenes Credo.
Kev schaute zu Bruno hoch. Er konnte nur dann eine familiäre Ähnlichkeit zwischen Tonys verwüstetem Gesicht und Brunos
GQ
-Attraktivität erkennen, wenn der junge Mann so finster dreinblickte, wie er es jetzt gerade tat.
»Keine Komas mehr«, warnte Bruno ihn hinter zusammengebissenen Zähnen. »Sonst trete ich dir in den Arsch, dass dir Hören und Sehen vergeht. Ist das klar?«
Es war kein Koma gewesen, aber Kev fehlte die Energie, ihm das zu erklären. Als er den Arm zu bewegen versuchte, stellte er mit zurückhaltender Erleichterung fest, dass er ihm gehorchte. Er tätschelte Brunos von schwarzen Bartstoppeln bedeckte Wange.
»Danke, dass du dich um mich sorgst«, sagte er.
Bruno zuckte zurück. »Sei bloß nicht gönnerhaft«, fauchte er.
Kev nahm seinen Ziehbruder genauer unter die Lupe. Der dunkle Bartschatten war ein eindeutiger Beleg für die Angst, die er ausgestanden hatte. Sonst war Bruno immer rasiert und parfümiert, sein Haar zurückgegelt, seine Kleidung vom Allerfeinsten. Heute trug er ein zerknittertes T-Shirt voller Kaffeeflecken.
Kev verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Er kämpfte sich in eine sitzende Position hoch und pulte das Pflaster weg, das seine Infusionsnadel fixierte.
»He!« Bruno grapschte nach seinem Handgelenk und hielt es fest. »Was soll das werden? Überlass das der Krankenschwester!«
Kev pflückte Brunos Finger von seinem Unterarm. »Ich bin wach«, sagte er. »Ich kann mich bewegen. Lass mich weitermachen.«
»Womit weitermachen? Mit der Suche nach den Monstern aus deiner Vergangenheit? Großartige Idee! Dann können wir zusehen, wie du einen tödlichen Schlaganfall erleidest, sobald du sie findest.«
»Ich erleide keinen Schlaganfall«, widersprach Kev ruhig. »Wo sind meine Klamotten?«
»Leg dich wieder hin, Junge«, riet Tony ihm. »Du siehst beschissen aus.«
Kev zog das Pflaster ab und die Nadel aus seinem Handrücken. Dann blickte er sich im Zimmer um. »Würdest du mir bitte den Laptop geben?«
Bruno funkelte ihn an. »Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren? Nein, antworte nicht. Das war rhetorisch gemeint. Jedenfalls bekommst du ihn nur über meine Leiche. Sonst noch Fragen?«
»Ach, komm schon. Gibt es hier WLAN ?«
Bruno kniff die Augen zusammen. »Du willst dir noch mal dieses Foto anschauen? Obwohl es dich für achtundzwanzig Stunden außer Gefecht gesetzt hat?« Er schaute auf seine Uhr. »Und fünfunddreißig Minuten? Träum weiter!«
Kev blinzelte.
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