Die Macht der Angst (German Edition)
Zeitschriftenauslage beäugte. Er drehte den Kopf, als wollte er den Lageplan der Buchhandlung studieren, und gab ihr damit einen exklusiven Blick auf seine Narben. Hastig wandte sie die Augen ab und schlenderte davon. Na also. Eine weniger, blieben noch drei Milliarden. Die aussichtslosen Kandidatinnen sortierte er so schnell wie möglich a priori aus.
Kev hatte zu seinem Leidwesen feststellen müssen, dass die Mädchen sich überwiegend in zwei Lager aufteilten: das, das sich von seinen Narben abgestoßen fühlte, und das, das von ihnen fasziniert war. Er wusste nicht, welche Kategorie er schlimmer fand.
Er hasste es, ihnen seine Geschichte zu erklären. Er log nicht gern, aber genauso sehr widerstrebte es ihm, die Wahrheit zu enthüllen. Sich mit dem Staunen der Mädchen, ihren Spekulationen, ihrem Mitleid und Schaudern auseinandersetzen zu müssen. Und dem Allerschlimmsten: ihren romantischen Fantasievorstellungen, seine misshandelte Seele trösten und seine inneren Wunden heilen zu können. Zur Hölle mit dieser ermüdenden Scheiße. Da zog er die Enthaltsamkeit vor.
In diesem Moment entdeckte er das Foto, und jeder klare Gedanke verflüchtigte sich aus seinem Kopf.
Diese Augen, die ihm daraus entgegenblickten – so ernst und ruhig und mitfühlend. So voller Licht.
Sein Engel. Die Strahlkraft dieser Augen, der Schock, sie hier zu sehen; Kev fühlte sich, als würde ihn ein Stier auf die Hörner nehmen und alle Luft aus ihm herauspressen.
Seine Lungen sandten Warnsignale aus. Er zwang sich zu atmen, pumpte Sauerstoff hinein. Dann nahm er seinen Mut zusammen und las den Namen.
Lernen Sie die Autorin kennen. Edie Parrish. 14:30 Uhr
.
Auf dem Tisch türmten sich Comic-Romane. Kev drückte die Knie zusammen, um nicht zu schwanken wie ein Betrunkener. Er entdeckte ein weiteres Schwarz-Weiß-Porträt, doch auf diesem hatte sie die Haare nach hinten gekämmt und trug keine Brille. Sie schaute ihm direkt ins Gesicht. Der Ausdruck in ihren Augen war eine stumme, gleichmütige Herausforderung.
Kev konnte nicht sagen, wie lange er in dem Gang verharrte. Ob sein Mund offen stand. Menschen drängten sich an ihm vorbei, behindert von seinem großen Körper, der ihnen den Weg versperrte. Er registrierte ihre Verärgerung, war jedoch unfähig, sich vom Fleck zu rühren.
Edie Parrish war sein weiß gewandeter Engel. Kein Wunder, dass er auf ihn immer so klein gewirkt hatte. Vor achtzehn Jahren war sie noch ein Kind gewesen. Erst elf.
Ein wunderschönes Kind, das zu einer wunderschönen Frau herangereift war.
Er schaute in diese Augen, während sein Hirn sich in einen neuen, veränderten Zustand brachte. Ehrfürchtige Scheu, gepaart mit einer seltsamen, ungläubigen Freude. Und mit schrecklicher Angst. Er würde seinen magischen Talisman nun nicht länger haben, der so ausschlaggebend dafür war, dass er sich in dem Labyrinth seiner Not leidenden Seele zurechtfand. Wenn sein Engel ein Mensch aus Fleisch und Blut war, konnte Kev keinen Schutz mehr vor den Mächten der Dunkelheit von ihm erwarten. Er konnte ihn nicht weiter wie einen Glückspfennig benutzen, wenn er eine reale, lebendige Person mit eigenen Sorgen und Kümmernissen war.
Eine Frau. Und dazu noch so verdammt schön. Seine Hände zitterten. Kev interpretierte zu viel in diese Sache hinein. Er erkannte es, fühlte es. Trotzdem kam er nicht dagegen an.
Wo und wann konnte er ihr schon einmal begegnet sein? Würde sie ihn wiedererkennen? War es möglich, dass sie etwas über seine Vergangenheit wusste?
Nein, du Idiot. Stell es dir gar nicht erst vor. Hoffe nicht darauf. Denn das konnte sie nicht. Sie war damals ein Kind gewesen. Viel zu jung. Sie konnte nichts wissen. Absolut ausgeschlossen.
Ein gedämpftes Hüsteln drang an sein Ohr, und er bemerkte den nervösen Blick eines Angestellten.
Benimm dich normal, Trottel
. Kev trat näher an den Tisch und griff sich eins der Bücher. Er studierte das Cover, dann spürte er den verzögerten Blitzeinschlag in seinem System. Es war eine Zeichnung … von ihm.
Warte. Wie zur Hölle war das möglich? Kev rieb sich die Augen, dann schob er mit pochendem Herzen seine Sonnenbrille nach oben und spähte wieder auf das Buchcover.
Fade Shadowseeker, Buch IV, Fluch der Nacht
.
Fluch der Nacht
. Der Titel schallte durch seinen Kopf wie ein Gongschlag. Er betrachtete das stachelige, aschblonde Haar, die hellgrünen Augen, die schmalen Züge, den breiten Mund. Das Gesicht war auf der rechten Seite vernarbt.
Nein.
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