Die Macht der Angst (German Edition)
gerettet, aber Fade stürzte mit einem Salto über die Kante eines Wasserfalls.
Dieses Mal erschütterte ihn die unheimliche Parallele weniger. Schock- und Angsthormone konnten nur wenige Male in dieser Heftigkeit ausgeschüttet werden, danach waren die Vorräte zum Glück aufgebraucht. Auf den Vogelschwarm gewappnet, der jeden Moment in seiner Magengrube aufsteigen würde, nahm Kev Buch II zur Hand, öffnete es und begann zu lesen.
»Noch Fragen?« Edie schaute sich in dem überfüllten Raum um. Es war heute ein redseliger, enthusiastischer Pulk. Die Streicheleinheiten für ihr Ego waren nett, aber es kostete Kraft, lächelnd mit einem Haufen Fremder zu plauschen.
Sie deutete auf ein hochgewachsenes Mädchen mit dunkel gefärbtem Haar und schwarzem Lippenstift.
»Was hat Sie zu Fade inspiriert?«, wollte das Mädchen begierig wissen. »Er ist so real! So eindringlich! Basiert die Figur auf jemandem, den Sie kennen?«
Edie spürte, wie ihr Lächeln verblasste. »Nicht wirklich«, schwindelte sie. »Er ist mir eines Nachts im Traum erschienen, und ich konnte ihn nicht mehr vergessen.«
Wenigstens das war die Wahrheit. Fade Shadowseeker besuchte sie in ihren Träumen, seit sie mit achtzehn angefangen hatte, ihn zu zeichnen. Es hatte nicht lange gedauert, bis diese Träume hocherotisch geworden waren.
Ein rothaariges Mädchen sprang auf, ohne zu warten, bis es aufgerufen wurde. »Fade ist unglaublich sexy. Ich finde es fantastisch, dass er und Mahlia in
Fluch der Nacht
endlich zur Sache kommen, aber dann kidnappen die bösen Kerle sie, und das lenkt total ab. Werden sie je zusammenkommen? Ich meine, als Paar?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Edie. »Diese Dinge finde ich erst beim Schreiben heraus.«
Die junge Frau wirkte enttäuscht. »Aber können Sie sie nicht einfach dazu bringen?«, konterte sie schnippisch. »Schließlich sind Sie der Boss, richtig?«
»Falsch. Wenn die Geschichte funktioniert, bin ich keineswegs der Boss. Es ist ein Paradoxon. Aber ich hoffe selbst, dass Fade und Mahlia zueinanderfinden.«
»Sind Sie Mahlia?«, hakte der Rotschopf nach. »Sie sieht Ihnen irgendwie ähnlich. Ist Fade so etwas wie Ihre geheime Fantasie?«
Die persönliche Frage brachte Edie aus dem Konzept. »Ich, äh … nein«, stotterte sie. »Der Gedanke ist mir nie gekommen. Und ich identifiziere mich auch nicht zwingend mit Mahlia.«
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie log wie gedruckt, aber ein wenig Privatsphäre wollte sie sich erhalten. Das rothaarige Mädchen gab unbefriedigt auf. Edies Presseagentin bedeutete ihr mit einer knappen Geste, allmählich zum Ende zu kommen. Sie hatten die Frage-und-Antwort-Stunde schon zwanzig Minuten überzogen, dabei war noch nicht einmal das erste Buch signiert.
Das Signieren war der einfachste Teil, auch wenn Edie sich albern dabei vorkam, die gleichen gefühlsduseligen Zeilen in jedes Buch hineinzukritzeln. Sie gab sich Mühe, dabei zu plaudern, aber mit der Zeit wurde der Gedanke, sich mit einem kalten Bier und einem Leihfilm auf ihre Couch zu fläzen, einfach zu verlockend. Mutanten, die Los Angeles erobern. Edie liebte Mutanten-Filme. Warum bloß? Haha.
Das Ende der Warteschlange war fast erreicht, als das rothaarige Mädchen an die Reihe kam. Lächelnd nahm Edie ihr abgenutztes Exemplar von
Fluch der Nacht
entgegen. Wenn das mal kein Kompliment war. Es war erst vor einem Monat erschienen und hatte bereits Eselsohren. Aus einem großzügigen Impuls heraus blätterte sie zu der leeren Seite nach dem Deckblatt. »Wie heißen Sie?«, fragte sie.
»Vicky«, zwitscherte das Mädchen aufgeregt. »Vicky Sobel.«
Edie schrieb:
Danke, Vicky! Es gibt Hoffnung für Fade und Mahlia und den Triumph der wahren Liebe. Mit den besten Wünschen, Edie Parrish
. Dann zeichnete sie mit flinken Fingern eine Skizze von Fade, der eine Frau im Arm hielt. Edie schaute hoch, um ihr das hübsche Gesicht und die großen Augen des rothaarigen Mädchens zu verleihen.
In der Regel öffnete sich ihr inneres Auge nicht so schnell, sonst blieb ihr immer eine Gnadenfrist von circa einer Minute. Doch als sie jetzt von der Seite hochblickte, auf die sie die rote Lockenpracht des Mädchens skizziert hatte, und in sein Gesicht schaute, da sah sie es.
Etwas anderes, vergleichbar mit einer spiegelbildlichen Vision. Es war eine andere Umarmung, nur umarmte das Mädchen keinen Mann, sondern es befand sich im Würgegriff einer riesenhaften Schlange. Edie sah den Totenschädel, der das
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