Die Macht der Angst (German Edition)
Das ist mein Ernst. Und ich will kein einziges Wort mehr über Fade Shadowseeker hören.« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.
Jamal zog sich widerstrebend zurück. Edie taxierte ihn streng, bis er ums Eck verschwunden war, dann sperrte sie die Tür auf und trat ein.
Gerüche stürmten auf Kev ein. Getrocknete Rosenblätter, Zimt, Pflanzendünger, Blumenerde. Er roch die Pollen des großen Wildblumenstraußes in dem Krug auf dem billigen Holztisch. Die Düfte von Seife, Badesalzen und Shampoo drifteten aus dem Bad; Kev identifizierte auf Anhieb Sandelholz und Lavendel. Die Aromen von Papier, Büchern, Tinte, Bleistiften.
Und Edies eigener Geruch – süß, warm und weiblich – überlagerte alles andere.
Es war ein unglaublicher Duft. Er berauschte ihn. Man sollte ihn in Flakons abfüllen.
Sonnenstrahlen fielen schräg durch halb geschlossene Jalousien und malten Lichtfinger auf die Wände, die mit Zeichnungen, Fotos, Postkarten und Zeitschriftenschnipseln tapeziert waren. Es war wie ein verstohlener Blick in ihr Innerstes. Kev wollte sich dort einnisten und ewig herumschnüffeln. Sehen, was sie sah. Ihre Gedanken, Ängste, Träume und Vorstellungen studieren. Er wollte alles wissen.
Und hier war es. Alles, wonach er hungerte. Serviert auf einem Silbertablett.
Edie schloss die Tür und beobachtete dann, wie er ihr bescheidenes Heim in Augenschein nahm. Mehr als einen kurzen Rundblick benötigte er dafür nicht. In einer Ecke stand auf einem Überseekoffer ein Fernsehgerät, in eine andere zwängte sich eine winzige, minimalistische Küche. Graslilien und Begonien hingen von der Decke. Der Rest des Zimmers gehörte ihrem Zeichentisch, ihren Büchern und Wandcollagen. Eine Tür führte in ein beengtes Bad, eine zweite in ein Schlafzimmer, das gerade genug Platz bot für einen schmalen Futon und eine kleine Kommode. Was vollkommen ausreichend war, nachdem Edie nicht die Angewohnheit hatte, Klamotten zu horten. Wenn es warm war, arbeitete sie in Unterwäsche, bei kalter Witterung in abgetragenen Leggings und Sweatshirts.
»Ich muss mich für Jamal entschuldigen«, ergriff sie das Wort. »Er ist ein eingefleischter Fade-Fan; es fällt ihm manchmal schwer, Fiktion und Realität auseinanderzuhalten.«
»Kein Problem.« Kev betrachtete ihre Wände.
»Ich weiß, was dir durch den Sinn geht.«
Seine Lippen zuckten. »Tatsächlich?«
»Du fragst dich, wieso eine Parrish in einem solchen Rattenloch wohnt«, sagte sie. »Stimmt’s?«
»Nein. Mir ging durch den Sinn, wie sehr diese Wohnung ausdrückt, was dir wichtig ist.« Er gestikulierte zu dem Zeichentisch, den Büchern, den mit Zeichenbedarf und Kunstmonografien gefüllten Regalen. »Aber da du es schon angesprochen hast, erklär es mir. Wieso wohnt eine Parrish in einem solchen Rattenloch?«
Edie atmete tief durch und spannte die Bauchmuskeln an. Es hatte keinen Sinn, die wenig beneidenswerte Lage, in der sie sich befand, zu beschönigen. Das hatte sie öfter schon versucht, aber früher oder später war die Wahrheit doch ans Licht gekommen.
»Mehr kann ich mir ohne die Unterstützung meines Vaters nicht leisten«, gestand sie. »Die Bücher verkaufen sich gut, darum wird sich meine Situation bald entspannen, aber im Moment …« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Unterstützung meines Vaters ist an Bedingungen geknüpft. Ich muss ein braves Mädchen sein, meine Medikamente einnehmen, darf niemanden blamieren und nichts Seltsames von mir geben. Ich habe es versucht, aber wenn ich die Tabletten nehme, fühle ich mich halb tot. Ich kann nicht zeichnen, bin nicht mehr ich selbst. Mein Vater glaubt, dass ich das nur tue, um ihn zu ärgern.« Sie verscheuchte den schmerzhaften Gedanken. »Hier bin ich also.«
»Hier bist du also«, bestätigte er ruhig.
»Ich kann von Glück reden, dass ich als Künstlerin genug verdiene, um mir wenigstens das hier leisten zu können«, fuhr sie fort. »Es gibt nicht vieles, worin ich sonst noch gut bin.«
Die Herbstsonne strahlte durch das Fenster, leuchtete in seine Augen und verlieh ihnen das warme Jadegrün eines Gletschersees. Obwohl sie es seit zehn Jahren versuchte, reichten Edies Zeichnungen nicht ansatzweise an seine reale Anziehungskraft heran. Durch seine Narben wurde seine umwerfende männliche Schönheit nur umso ergreifender. Sie hoben sie hervor und gemahnten gnadenlos an seine Verletzbarkeit.
Er war kein übermenschliches Wesen. Er war real.
Seine Narben ließen sie an den Tag denken, der ihr Leben in
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