Die Macht der Disziplin
Wollten sie lieber einen Stift oder eine Kerze? Eine Kerze mit Vanille- oder Mandelduft? Eine Kerze oder ein T-Shirt? Ein schwarzes oder ein rotes T-Shirt? Die Kontrollgruppe – nennen wir sie die Nicht-Entscheider – durfte sich währenddessen an den Waren sattsehen, ohne Entscheidungen treffen zu müssen. Sie sollte lediglich ihre Meinung zu den Produkten abgeben und angeben, wie oft sie welches in den zurückliegenden sechs Monaten benutzt hatte. Danach wurden sämtliche Teilnehmer einem klassischen Test zur Selbstdisziplin unterzogen und mussten ihre Hand so lange wie möglich in eiskaltes Wasser stecken. Das ist eine unangenehme Erfahrung, und die Teilnehmer verspüren den Impuls, die Hand wieder herauszuziehen, weshalb Selbstbeherrschung erforderlich ist, um sie im Wasser zu lassen. Dabei stellte sich heraus, dass die Entscheider deutlich schneller aufgaben als die Nicht-Entscheider. Die vielen Entscheidungen hatten offenbar an ihrem Willen gezehrt.
In einer Abwandlung des Versuchs mussten die Studenten ein Vorlesungsverzeichnis durchgehen und Kurse auswählen, die sie belegen wollten. In einem weiteren Experiment sollten die Teilnehmer eines Psychologiekurses über das restliche Kursprogramm entscheiden: Welche Filme wollten sie sehen, wie viele Wissenstests wollten sie noch ablegen? Nachdem sie diese Entscheidungen getroffen hatten,sollten sie mathematische Aufgaben lösen. Einigen teilten die Kursleiter mit, sie müssten einen Intelligenztest lösen und könnten ihre Werte verbessern, wenn sie eine Viertelstunde lang übten; dazu wurden sie in einen Raum gebracht, in dem ihnen nicht nur Übungsmaterial zur Verfügung stand, sondern auch Zeitschriften und Videospiele. Wieder und wieder zeigte sich, wie Entscheidungen an der Willenskraft der Studenten zehrten. Entscheider gaben deutlich schneller auf als Nicht-Entscheider, und statt ihre Zeit zur Vorbereitung zu verwenden, verschwendeten sie sie lieber auf Zeitschriften und Videospiele.
Um ihre Theorie im wirklichen Leben zu überprüfen, suchten die Forscher die archetypische Entscheidungsarena von heute auf: das Einkaufszentrum. Besucher einer Mall wurden zu ihrer Erfahrung in den Geschäften befragt und sollten danach einige einfache Rechenaufgaben erledigen. Die Wissenschaftler baten sie höflich, so viele Aufgaben wie möglich zu lösen, wiesen sie jedoch darauf hin, dass sie jederzeit aufhören konnten. Wie zu erwarten gaben die Einkäufer, die bereits zahlreiche Entscheidungen in den verschiedenen Geschäften getroffen hatten, am schnellsten auf. Wenn Sie einkaufen bis zum Umfallen, dann fällt Ihre Willenskraft mit um. Praktisch gesehen zeigte das Experiment die Gefahren des Marathon-Shoppings. Aber auf theoretischer Ebene warf es eine neue Frage auf: Welche Entscheidungen zehren am meisten an unserer Willenskraft? Welche Entscheidungen sind die schwierigsten?
Warum Entscheidungen so schwierig sind
Psychologen unterscheiden zwei grundlegende mentale Prozesse: unbewusste und bewusste. Unbewusste Prozesse laufen automatisch ab und kosten keine Anstrengung. Wenn Sie jemand fragt: »Was ist 4 mal 7?«, dann kommt Ihnen vermutlich unwillkürlich die Antwort 28 in den Kopf. Sollen Sie dagegen 26 mit 30 multiplizieren, ist vermutlich ein gewisser Aufwand erforderlich, denn Sie werden einige Rechenschrittedurchführen, um zum Ergebnis 780 zu gelangen. Schwierige mathematische Berechnungen und andere logische Denkoperationen erfordern die Befolgung systematischer Regeln, und dazu benötigen Sie Willenskraft. Wenn Sie Entscheidungen treffen, führen Sie oft ähnliche Operationen durch – Psychologen sprechen vom Rubikon-Modell 69 der Handlungsphasen, benannt nach dem Fluss, der im Römischen Reich die Grenze bildete zwischen Italien und der seinerzeitigen Provinz Gallien, die auch das heutige Norditalien umfasste. Als Julius Cäsar an den Rubikon gelangte, war ihm bewusst, dass ein Feldherr, der nach Rom zurückkehrte, seine Truppen hier zurücklassen musste. Würde er den Fluss mit seinen Legionen überqueren, dann bedeutete das den Bürgerkrieg. Während er am gallischen Ufer seine Ziele und Möglichkeiten erörterte und Kosten und Nutzen gegeneinander abwog, befand er sich in der »Vorentscheidungsphase«. Nachdem er diese abgeschlossen und den Rubikon überquert hatte, gelangte er in die »Nachentscheidungsphase«, für die er ein berühmtes Bild fand, als er erklärte: »Der Würfel ist geworfen.«
Im Prinzip könnte der gesamte Prozess eine
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