Die Macht der Disziplin
weit weniger bedrohlich, wenn Sie wissen, dass jemand anders dort stehen wird.
Das Richterdilemma
Unlängst stellten vier Männer, die Haftstrafen in israelischen Gefängnissen absaßen, Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Die Entscheidung darüber wurde von einem Gremium mit einem Richter, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter getroffen, die auf einer ganztägigen Sitzung über ihre und ähnliche Anträge befanden. Jederder vier Antragsteller war Wiederholungstäter und hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Haftstrafe für ein anderes Delikt verbüßt. Jeder hatte zwei Drittel seiner neuen Haftstrafe abgesessen, jeder wollte nach seiner Entlassung an einem Resozialisierungsprogramm teilnehmen. Es lagen allerdings auch einige Unterschiede vor, weshalb das Gremium nur zwei der vier Männer vorzeitig aus der Haft entließ. Sehen Sie sich die folgende Liste an und raten Sie, welche Männer freikamen und welche hinter Gittern blieben:
Fall 1 (8:50 Uhr):
Araber mit einer 30-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs.
Fall 2 (13:27 Uhr):
Jude mit einer 16-monatigen Haftstrafe wegen Überfalls.
Fall 3 (15:10 Uhr):
Araber mit einer 16-monatigen Haftstrafe wegen Überfalls.
Fall 4 (16:25 Uhr):
Jude mit einer 30-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs.
Die Entscheidung des Ausschusses weist ein Muster auf, aber es hat nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit, dem Vergehen oder der Dauer der Haftstrafe zu tun, wie Sie vielleicht meinen könnten. Das Muster befeuert vielmehr einen Streit um die Frage der Gerechtigkeit. Traditionelle Juristen beschreiben das Gesetz als ein Regelwerk, das unparteiisch zur Anwendung gebracht wird; ihr Bild ist die Justitia mit den verbundenen Augen. Eine andere Gruppe von Juristen ist dagegen der Meinung, die Urteile seien vor allem ein Produkt menschlicher Vorurteile und nicht abstrakter Regeln. Diese Realisten, wie sie sich selbst nennen, definieren Gerechtigkeit als »das, was der Richter zum Frühstück gegessen hat«.
Diese Behauptung überprüfte ein Psychologenteam unter der Leitung von Jonathan Levav von der Columbia University und Shai Danziger von der Ben Gurion-Universität. Die beiden Wissenschaftler untersuchten mehr als tausend Urteile, die israelische Bewährungsrichter 70 über einen Zeitraum von zehn Monaten gefällt hatten. Die Richter berieten sich mit Psychologen und Sozialarbeitern und entschieden dann, ob ein Häftling vorzeitig auf Bewährung entlassen wurde oder nicht. Wenn die Richter die Haftverkürzung gewährten, taten sie natürlich den Häftlingen und deren Familien einen Gefallen und entlasteten den Staatssäckel, aber sie gingen auch ein gewisses Risiko ein. Denn wenn ein Häftling nach einer vorzeitigen Entlassung ein weiteres Mal straffällig wurde, dann warf dies ein schlechtes Licht auf den Richter. Und wenn es ein besonders schweres Verbrechen war, das in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregte, konnte dies den Ruf des Richters langfristig beschädigen.
Durchschnittlich gewähren die Richter nur jedem dritten Häftling eine vorzeitige Haftentlassung. Doch hier entdeckten die Wissenschaftler ein interessantes Muster: In den Verhandlungen am frühen Vormittag wurden 70 Prozent der Häftlinge begnadigt, aber in den Verhandlungen am späten Nachmittag waren es nur 10 Prozent. Das heißt, Häftling 1, dessen Fall um 8:50 verhandelt wurde, hatte gute Karten und wurde tatsächlich vorzeitig entlassen. Und obwohl Häftling 4 dieselbe Strafe für dasselbe Delikt verbüßte, standen seine Chancen deutlich schlechter, als er (an einem anderen Tag) um 16:25 vor dem Richter erschien. Wie die meisten Häftlinge, deren Fall am späten Nachmittag verhandelt wird, wurde sein Gesuch abgelehnt.
Der Übergang vom Vormittag zum Nachmittag verläuft allerdings nicht fließend. Über den Tag hinweg ergeben sich weitere interessante Muster. Kurz vor halb elf macht das Gremium in der Regel eine kurze Pause und die Richter essen belegte Brote oder Obst. Damit wird dem Blut wieder frische Glukose zugeführt. (Erinnern Sie sich an die Kinder, die ohne Frühstück zur Schule kamen und nach einem Pausenbrot plötzlich aufmerksam wurden?) Von den Häftlingen, die als letzte vor der Pause aufgerufen wurden, kamen nur 15 Prozent frei, nach der Pause waren es 70 Prozent.
Zur Mittagspause wiederholte sich das Spiel. Wer unmittelbar vor dem Mittagessen aufgerufen wurde, hatte eine 10-prozentige Chance,freizukommen, wer unmittelbar danach drankam,
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