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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Baumeister
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dagegen eine 60-prozentige. Häftling 2 hatte das Glück, dass sein Fall nach dem Mittagessen verhandelt wurde, und kam frei. Häftling 3, der dieselbe Strafe für dasselbe Delikt absaß, war jedoch in einer unterzuckerten Phase um 15:10 an der Reihe, sein Bewährungsgesuch wurde prompt abgeschmettert.
    Rechtsprechung ist harte Arbeit. Während die Richter ein Urteil nach dem anderen fällen, verbrennen ihre Körper den Willensbaustein Glukose. Ganz unabhängig von ihren persönlichen Überzeugungen – egal ob sie als Richter Gnadenlos bekannt waren oder für Resozialisierung eintraten – hatten sie weniger mentale Ressourcen zur Verfügung, um ihre Entscheidungen zu treffen. Also neigten sie offenbar zu der Option, die für sie weniger riskant war. So unfair das für die Häftlinge ist – warum sollten sie weiter im Gefängnis schmachten, nur weil der Richter noch kein zweites Frühstück zu sich genommen hat? –, stellt diese Form der Urteilsverzerrung keinen Einzelfall dar. Im Gegenteil, sie ist überall zu finden. Die Beziehung zwischen Willenskraft und Entscheidung ist keine Einbahnstraße: Entscheidungen zehren an Ihrer Willenskraft, und wenn diese erschöpft ist, sehen Sie nicht mehr klar. Wenn Sie den ganzen Tag über Entscheidungen zu treffen haben, sind Sie irgendwann ermattet und wollen Kräfte sparen. Sie suchen nach Entschuldigungen, eine Entscheidung zu vermeiden oder aufzuschieben. Oder Sie wählen die einfachste und sicherste Option, und die ist oft der Status quo: Der Häftling bleibt hinter Gittern.
    Dem Häftling die vorzeitige Haftentlassung zu verweigern, mag dem Richter auch deshalb attraktiver erscheinen, weil es ihm mehr Möglichkeiten bietet: Er kann den Häftling später immer noch begnadigen und sich die Option offenhalten, ihn heute sicher hinter Gittern zu lassen. Die Angst vor Entscheidungen hat oft damit zu tun, dass wir uns keine Optionen nehmen wollen. Je mehr wir beim Entscheiden aufgeben, umso größer die Furcht, dass es sich dabei um etwas Wichtiges handeln könnte. Wenn sich Studenten für ein Doppelstudium entscheiden, dann oft nicht, weil sie sich und anderen etwas beweisenwollen oder weil sie eine geniale Berufsidee vor Augen haben, in der sich Biologie und Ägyptologie miteinander verbinden lassen. Oft können sie sich einfach nicht dazu durchringen, eine der beiden Optionen aufzugeben. Sich für ein Fach zu entscheiden, bedeutet automatisch, sich von dem anderen zu verabschieden, und genau das fällt uns schwer, auch wenn es besser für uns wäre. Wir sind umso weniger bereit, Optionen aufzugeben, je ausgelaugter unser Wille ist. Da bei Entscheidungen unsere Willenskraft gefordert ist, suchen wir bei Erschöpfung Möglichkeiten, Entscheidungen aufzuschieben oder ganz zu vermeiden.
    In einem Experiment sollten sich Teilnehmer verschiedene Waren ansehen und entscheiden, ob sie etwas kaufen wollten, und wenn ja, was. Teilnehmer, deren Willenskraft zuvor geschwächt worden war, gingen der Entscheidung öfter aus dem Weg und kauften nichts. In einem anderen Versuch sollten sich die Probanden vorstellen, sie hätten 10   000 Dollar auf dem Konto, die sie nicht benötigten, und erhielten ein Angebot, dieses Geld risikolos zu überdurchschnittlichen Zinsen anzulegen. Teilnehmer mit normaler Willenskraft wollten das Angebot wahrnehmen, doch die ermatteten Versuchspersonen ließen ihr Geld lieber, wo es war. Finanziell war diese Entscheidung wenig sinnvoll, da sie auf ihrem Girokonto keine Zinsen bekamen, aber es war leichter, keine Entscheidung zu treffen.
    Dieses Phänomen der Entscheidungsmüdigkeit erklärt auch, warum so viele Menschen die wichtigste Entscheidung ihres Lebens vor sich herschieben: die Partnerwahl. Mitte des 20. Jahrhunderts heirateten die meisten Menschen in ihren frühen Zwanzigern. Doch dann ergaben sich für Männer und Frauen neue Möglichkeiten. Viele entschieden sich für ein Studium und für Berufe, die eine längere Ausbildung erforderten. Dank der Pille und der veränderten gesellschaftlichen Werte mussten sie nicht heiraten, um Geschlechtsverkehr haben zu können. Je mehr Menschen in die Städte zogen, umso größer wurde die Auswahl der potenziellen Partner, und umso größer natürlich auch die Zahl der Optionen, die sie möglicherweise verloren, wennsie sich für eine von ihnen entschieden. Für eine Kolumne, die John Tierney im Jahr 1995 schrieb, untersuchte er ein typisches New Yorker Phänomen: Intelligente und attraktive Einwohner der Stadt

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