Die Macht der Disziplin
gewahrt, aus Selbstdisziplin und aus Selbstachtung.«
Man könnte sich natürlich fragen, ob er seine Energie nicht besser anders hätte verwenden können, zum Beispiel für die Suche nach Nahrung. War dies nicht eine sinnlose Disziplin, mit der er nur seine Willenskraft schwächte, die ihm dann nicht mehr für überlebenswichtige Aufgaben zur Verfügung stand? Ganz im Gegenteil, Gewohnheiten wie diese können die Selbstdisziplin sogar noch verbessern, weil sie mit automatischen mentalen Prozessen zusammenhängen, die kaum Energie benötigen. Stanleys Überzeugung, dass ein Zusammenhang zwischen äußerer Ordnung und innerer Selbstdisziplin besteht, wurde unlängst in einer Reihe von bemerkenswerten Untersuchungen bestätigt. In einem Experiment saß eine Gruppe von Teilnehmern in einem aufgeräumten und sauberen Labor, während sie eine Reihe von Fragen beantwortete; hingegen bekam eine andere Gruppe dieselben Fragen in einem chaotischen Durcheinander vorgelegt. Die Teilnehmer, die im Chaos saßen, wiesen deutlich geringere Selbstdisziplin auf und waren beispielsweise eher bereit, jetzt eine kleine Summe einzustecken statt eine Woche auf eine größere Summe zu warten. Als man ihnenGetränke und eine Kleinigkeit zu essen anbot, entschieden sich die Teilnehmer im aufgeräumten Labor für Milch und Obst, die im Saustall dagegen für Cola und Schokoriegel.
In einem ähnlichen Online-Experiment beantwortete eine Gruppe von Teilnehmern Fragen auf einer übersichtlichen und gut gestalteten Website und eine andere auf einer unübersichtlichen Seite mit vielen Rechtschreibfehlern. Auf der schlecht gestalteten Seite gaben mehr Teilnehmer an, dass sie Risiken wagten statt auf Nummer sicher zu gehen, dass sie fluchten und Schimpfwörter verwendeten und dass sie eine sofortige kleine Belohnung einer späteren und größeren vorzogen. Auf einer unaufgeräumten Website waren auch weniger Menschen bereit, für eine gute Sache zu spenden. Wohltätigkeit und Großzügigkeit hängen mit Selbstdisziplin zusammen, zum einen, weil wir Selbstdisziplin benötigen, um unseren natürlichen Egoismus zu überwinden, und zum anderen, weil der Gedanke an andere unsere Selbstdisziplin steigern kann (darauf gehen wir später noch genauer ein). Der ordentliche Internetauftritt und das aufgeräumte Labor waren subtile Hinweise, mit denen die Teilnehmer unbewusst zu disziplinierten Entscheidungen und Hilfsbereitschaft motiviert wurden. 116
Indem sich Stanley jeden Tag rasierte, gab er sich denselben Hinweis, ohne dabei viel geistige Energie zu verschwenden. Er musste nicht jeden Morgen bewusst die Entscheidung treffen, sich zu rasieren. Nachdem er einmal den Willen aufgebracht und es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, war die Rasur zu einem automatischen Prozess geworden, der keine Willenskraft mehr erforderte.
So absurd Stanleys Ordnungssinn im Hungerlager auf den ersten Blick erscheinen mag, er passt zu den Mustern, die Baumeister in Zusammenarbeit mit Denise de Ridder und Catrin Finkenauer 117 bestätigte. Die Wissenschaftler führten Untersuchungen mit Personen durch, die in Persönlichkeitstests besonders hohe Werte für Selbstdisziplin erzielt hatten, und unterschieden dabei zwei grobe Gruppen: unbewusste und bewusste Verhaltensweisen. Sie gingen davon aus, dass die Teilnehmer mit großer Selbstdisziplin diese vor allem in denvom Bewusstsein kontrollierten Verhaltensweisen ausspielen würden. Doch in der Meta-Analyse stellte sich heraus, dass das genaue Gegenteil der Fall war: Menschen mit großer Selbstdisziplin zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass ihr Verhalten weitgehend automatisiert war.
Zunächst verblüffte dieses Resultat die Wissenschaftler, zeigte es doch, dass wir bei kontrollierten Verhaltensweisen keine Kontrolle ausüben. Wie konnte das sein? Sie überprüften die Ergebnisse, doch es konnte keinen Zweifel geben. Erst bei einer Überprüfung der ursprünglichen Untersuchungen verstanden sie die Bedeutung. Das Resultat stellte das bisherige Verständnis der Selbstdisziplin auf den Kopf.
Bei den automatisierten Verhaltensweisen handelte es sich um Gewohnheiten, während die bewusst kontrollierten Verhaltensweisen in der Regel einmalige Handlungen darstellten. Die Selbstdisziplin ist offenbar dann am effektivsten, wenn wir uns gute Gewohnheiten zu- und schlechte ablegen. Menschen mit einem hohen Maß an Selbstdisziplin benutzen eher Kondome und vermeiden schlechte Angewohnheiten wie Rauchen, Zwischenmahlzeiten und
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