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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Baumeister
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beide Ohren verliebt, und einen Monat nach ihrer ersten Begegnung verlobten sich die beiden. Sie wollten heiraten, sobald Stanley von seiner nächsten Afrika-Expedition zurückkehrte. Als er von der afrikanischen Ostküste ins Landesinnere aufbrach, trug er ihr Foto in ein Öltuch gewickelt an seinem Herzen. Sein acht Meter langes Boot, das seine Männer auf der ersten Etappe durch den Urwald schleppten und mit dem er als erster Europäer die großen Seen im Herzen Afrikas umsegeln sollte, hatte er auf den Namen
Lady Alice
getauft. Mit der
Lady Alice
wollte er den Lualaba hinunterfahren und sehen, wo er mündete – vielleicht in den Nil (wie Livingstone meinte), vielleicht in den Niger, vielleicht aber auch in den Kongo (wie Stanley korrekt vermutete). Das wusste niemand, denn selbst die gefürchteten arabischen Sklavenhändler hatten sich durch Geschichten von kriegerischen Kannibalen abschrecken lassen, das Gebiet zu erkunden.
    Bevor er zu seiner Fahrt flussabwärts aufbrach, schrieb Stanley seiner Verlobten, er habe 25 Kilogramm verloren, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und bringe nur noch 54 Kilogramm auf die Waage. Er litt unter einem weiteren Malariaanfall und zitterte vor Kälte, obwohl die Temperatur tagsüber und in der Sonne auf fast 60 Grad stieg. Er befürchtete, dass ihm noch Schlimmeres bevorstand, doch in dem letzten Brief, den er seiner Verlobten vor Erreichen der afrikanischen Westküste schreiben sollte, interessierte ihn das nicht. »Meine Liebe für Dich glüht unverändert, Du bist mein Traum, mein Halt, meine Hoffnung und mein Leuchtturm«, schrieb er. »Ich werde dich in Ehren halten, bis wir uns wiedersehen oder mich der Tod holt.«
    An diese Hoffnung klammerte sich Stanley auf den nächsten fünfeinhalbtausend Kilometern. Er fuhr mit der
Lady Alice
den Kongo hinunter, überlebte Angriffe von Kannibalen, die mit dem Kriegsschrei »Niama! Niama! – Fleisch! Fleisch!« über die Expedition herfielen. Nur die Hälfte seiner Begleiter erreichte mit ihm die Atlantikküste auf einer Reise, die fast drei Jahre lang dauern und außer ihm alle europäischen Teilnehmer das Leben kosten sollte. Wieder in der Zivilisation, suchte Stanley ungeduldig nach Liebesbriefen von seiner Verlobten. Stattdessen fand er einen Brief von seinem Verleger, der ihm Unangenehmes zu überbringen hatte: »Nun komme ich zu einer delikaten Nachricht, von der ich lange überlegt habe, ob ich sie Ihnen jetzt mitteilen oder bis zu Ihrer Ankunft warten soll. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Sie besser gleich informiere, dass Ihre Freundin Alice Pike geheiratet hat!« Stanley war erschüttert, dass ihn die Frau seiner Träume verlassen (und den Sohn eines Fabrikanten von Eisenbahnwaggons aus Ohio geheiratet) hatte. Daran änderteauch ein kurzer Brief seiner Angebeteten nichts, die ihn zum Erfolg seiner Expedition beglückwünschte, beiläufig ihre Heirat erwähnte und einräumte, dass die
Lady Alice
»eine treuere Freundin war als die Alice, nach der sie benannt ist«. Für Stanley war der Vorfall ein weiterer Beweis für sein Pech in Liebesdingen. Er hatte offenbar das Foto der falschen Frau am Herzen getragen.
    Aber so tragisch seine Liebe endete, sie hatte ihm doch etwas gebracht: Sie hatte ihn von seinem Leid abgelenkt. Er mochte sich in ihr getäuscht haben, doch er war so klug gewesen, sich für seine Reise einen »Halt« und einen »Leuchtturm« zu suchen, die weit von seiner finsteren Umgebung entfernt waren. Es war eine Erfolgsstrategie, wie sie in einfacherer Form auch die Kinder in dem klassischen Marshmallow-Experiment verwendeten. Die Kinder, die das Marshmallow anstarrten, verloren rasch jeden Willen und erlagen der Versuchung, es sofort zu essen; aber diejenigen, die sich ablenkten, indem sie sich im Zimmer umsahen oder sich einfach die Augen zuhielten, ertrugen die Wartezeit. Notärzte greifen zu einem ähnlichen Trick, wenn sie sich mit Patienten über ein beliebiges Thema unterhalten, um sie von ihrem Schmerz abzulenken. Und Hebammen halten Frauen während der Wehen davon ab, die Augen zu schließen, um zu verhindern, dass sie sich auf ihren Schmerz konzentrieren. Sie alle erkennen den Nutzen dessen, was Stanley als »Selbstvergessenheit« bezeichnete. Er sah die Schuld für das Fehlverhalten seiner Nachhut in der Entscheidung der Führer, zu lange im Lager zu bleiben und auf Nachschub zu warten, statt ihm in den Urwald zu folgen. »Die Medizin gegen ihre Zweifel und Ängste wäre die

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