Die Macht der ewigen Liebe
hatte.
»Lucy, gib mir deine Perücke!«
Sie reagierte sofort. Ich nahm meine Kappe herunter und setzte mir das Haarteil auf. Prüfend betrachtete ich mich im Rückspiegel.
»Remy?«, fragte mich meine Schwester mit bebender Stimme, und unser Streit war zunächst vergessen. »Was ist los?«
»Das ist Erin«, erklärte ich. »Bleib hier, okay? Wenn du mich brauchst, bin ich sofort zur Stelle, und du weißt, was zu tun ist, wenn was passiert.«
Ich deutete dorthin, wo Erin saß, und vergewisserte mich dann, dass Lucy verstanden hatte. Sie nickte und zog sich meine Kappe über ihr Haar. Ihre Hände zitterten. Ich hätte sie gerne getröstet, aber mir fehlte die Zeit.
Nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war, marschierte ich nicht etwa schnurstracks auf Erin zu, sondern ließ mir Zeit und machte einen Umweg. Mein Großvater wusste, dass ich Erin mochte und dass sie mir geholfen hatte. Falls seine Leute uns schon entdeckt hatten, schickte er Erin möglicherweise allein nach draußen, um mich anzulocken. Immer wieder sah ich mich unauffällig nach allen Seiten um. Erst als ich mir sicher war, dass wir allein waren, näherte ich mich der Bank und setzte mich neben Erin. Sie starrte weiter aufs Meer, und das Mondlicht fiel auf dunkle Wellen, die ans Ufer brandeten. Erin sah noch genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte.
»Hey«, sagte ich nervös und wischte mir die schweißnassen Hände an der Jeans ab.
»Hey«, antwortete sie in dem zurückhaltenden Ton, den sie für Fremde parat hatte.
Sie linste in meine Richtung, und mir war sofort klar, dasssie mich trotz der Perücke erkannt hatte. Sie spannte ihre Muskeln an, und ihre Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Remy? Oh mein Gott!«
Dann streckte sie die Arme aus, um mich zu umarmen, doch ich schüttelte leicht den Kopf, und sie sank zurück auf ihren Platz.
»Bloß keine Aufmerksamkeit erregen«, erklärte ich. »Schau weiter nach vorn und tu so, als würden wir uns nicht miteinander unterhalten.«
Sie gehorchte, und kurz darauf merkte ich, wie sie sich entspannte. »Es ist so gut, dich zu sehen!«, sagte sie leise, zog die Knie an und verschränkte ihre behandschuhten Finger darum.
»Mir geht’s genauso. Ich hatte mir Sorgen um dich gemacht. Hast du Probleme gekriegt, weil du uns geholfen hast?«
Sie zuckte mit den Achseln und stopfte sich die Enden ihres roten Schals in den Mantel. »Nicht wirklich. Ich habe gelogen und gesagt, du hättest mich reingelegt und wärst so an die Info gelangt.«
Erleichterung durchflutete mich, gefolgt von Überraschung. »Du hast gelogen?«, fragte ich. Die Vorstellung, dass sie log, fiel mir schwer. Erin war eine der wenigen durch und durch herzensguten Menschen, die mir in meinem Leben begegnet waren.
Ihr leises Lachen brachte mich zum Lächeln. »Ich kann lügen, weißt du? Und zwar dann, wenn ich einen guten Grund dafür habe. Und diesen Grund haben die mir definitiv geliefert.«
Bis zu diesem Augenblick war mir gar nicht klar gewesen, wie sehr ich sie vermisst hatte. Sie hatte mich so freundlich und nett in ihre Gemeinde aufgenommen. Hatte mir alles über reinblütige Heilerinnen beigebracht, die heilen konnten und sich im Gegensatz zu mir dabei keine Verletzungenzuzogen. Im selben Alter wie Lucy war Erin einer meiner Lichtblicke in Pacifica gewesen.
»Ich muss dir so viel erzählen!«, sagte sie. Sorgenvoll weiteten sich ihre Augen. »Aber erst mal: Du hier? Bist du des Wahnsinns? Das ist gefährlich!«
Knapp dreißig Meter vor uns entfernt rollte der Ozean in einem beruhigenden Rhythmus an den Sandstrand. Ich atmete die salzige Luft ein und schätzte ab, wie viel ich Erin erzählen konnte, ohne sie einer noch größeren Gefahr auszusetzen. Auch ich zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum.
»Ich bin wegen Franc hier«, erzählte ich ihr. »Er hat mir etwas weggenommen, und ich muss es mir zurückholen.«
»Franc«, flüsterte sie und atmete tief aus. »Letztlich fällt immer alles auf ihn zurück, oder?«
»Ja. Ich …«
Das Handy in meiner Tasche meldete sich, und ich sah aufs Display. Lucy!
Ich ging dran. »Alcais kommt!«, schrie sie mit Panik in der Stimme. »Du musst dich verstecken! Er kann dich jeden Moment entdecken!«
Die Angst pumpte eine Adrenalinflut durch mich hindurch. »Nimm das Auto und fahr weg«, befahl ich. »Wir treffen uns in einer halben Stunde an der vereinbarten Stelle.«
Ich beendete das Gespräch, und in der Ferne hörte ich, wie ein Motor startete. Ich betete,
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