Die Macht der ewigen Liebe
wir unsere Ruhe haben wollten, waren wir zum Strand gewandert. Vor allem mit Erin hatte ich dort viele Stunden verbracht. Sie erinnerte mich an meine Schwester, und das hatte mir eine Zeit lang Trost gespendet.
Neben mir wurde Lucy zunehmend ungeduldig. Sie hasste es, im Wagen herumzusitzen, doch nun, da sich der Strand geleert hatte, würde sie auffallen.
»Nein«, sagte ich endlich. Die Sonne war kurz zuvor untergegangen. »Du stichst zu sehr heraus.«
Sie seufzte übertrieben laut, und ich verdrehte die Augen.
»Kann ich dann wenigstens jemanden anrufen?«, fragte sie.
»Wen denn?«
Lottie hatte sie schon vor einer Stunde angerufen, und ich hatte mich gerade mit Asher kurzgeschlossen. Ich machte ein finsteres Gesicht. »Du kannst Tim nicht anrufen!«
Sie vermisste ihren Freund. Die beiden hatten ungefähr zur selben Zeit angefangen zu daten wie Asher und ich. Es war ihr sehr schwergefallen, Tim in Blackwell Falls zurückzulassen.
Lucy riss den Kopf herum und funkelte mich an. »Das ist doch scheiße!«
»Es tut mir leid.« Das tat es wirklich. In dieser Situation musste sie ja das Gefühl haben, sie säße in der Falle.
»Stimmt doch gar nicht. Für dich geht’s doch gar nicht perfekter. Dein Freund ist ja hier.«
Ich versuchte, ihren höhnischen Ton zu übergehen. »Wir halten Abstand voneinander. Aber wie auch immer: Tim weiß nichts von Heilerinnen und Beschützern. Es wäre nicht fair, ihn mit dieser Welt zu konfrontieren.«
Lucy drehte sich von mir weg, trotzdem hörte ich sie murmeln: »Als ob dir das was ausmachen würde …«
»Hey! Was soll das denn bitte heißen?«
Sie verschränkte die Arme und weigerte sich, mich anzuschauen. »Du hast mir doch auch nicht wirklich eine Wahl gelassen.«
Ich starrte sie fassungslos an. »Ich habe versucht, dich zu beschützen! Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, damit du von dem hier unberührt bleibst.« Ich schwenkte die Hand auf eine Art, dass in dem »hier« auch ich selbst enthalten war. »Ich habe sogar unser Zuhause verlassen, damit dir nichts geschieht.«
»Aber du bist nicht fortgeblieben, oder?«, stieß sie hervor.
Ein kleiner Dolch glitt zwischen meine Rippen, und der Schmerz folgte schnell und scharf. Ich schnappte nach Luft.
Lucy hielt sich eine Hand vor den Mund, und in ihrem Gesicht machte sich Bedauern breit. »Es tut mir so leid!«, sagte sie. »Das habe ich nicht so gemeint!«
Ich blickte aus dem Fahrerfenster, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht sah. Als ich das Beben in meiner Stimme wieder unter Kontrolle hatte, antwortete ich: »Schon okay. Mach dir deswegen keinen Kopf.«
Sie berührte meine rechte Hand, die auf dem Sitz ruhte. »Nein, im Ernst, Sis. Es tut mir wirklich leid.«
Sie klang so zerknirscht, dass ich wiederholte: »Mach dir deswegen keinen Kopf. Vergiss es einfach, okay?«
Ich schob den Schmerz beiseite. Sie hatte meine Gefühle verletzt. Na und? Konnte ich ihr einen Vorwurf machen, weil sie mir übel nahm, was ich aus ihrem Leben gemacht hatte? Es war zwar nicht meine Schuld, dass ich ein Freak war oder dass ich nach Blackwell Falls gekommen war. Aber ich hätte stärker darauf bestehen sollen, nach New York zurückzugehen, oder, wenn das schon nicht möglich war, anderswo hinzuziehen. Doch die Wahrheit war: Ich hatte in Blackwell Falls bleiben wollen. Ich hatte das Heim und die Familie gebraucht, die ich dort gefunden hatte. Ich liebte sie und war deshalb nicht imstande gewesen zu gehen. Ich hatte mich entschieden, und die damit verbundenen negativen Folgen hatten jeden betroffen, an dem mir lag. Alle in meiner Familie und die Blackwells. Zeitweilig gelang es mir, diesen Gedanken zu verdrängen. Vertreiben konnte ich ihn nicht.
Das Klingeln meines Handys zerriss die angespannte Stille, und ich ging dankbar dran.
»Franc hat sich endlich in Bewegung gesetzt«, meldete Asher ohne Begrüßung. »Ich folge ihm mit dem Pick-up. Ich glaube, er ist nach Pacifica unterwegs.«
Ich setzte mich aufrecht. »Endlich! Ruf an, wenn du uns brauchst.«
Er bejahte, und das Gespräch war zu Ende. Im Rückspiegel entdeckte ich, dass eine vertraute Gestalt auf uns zukam. Bald würde sie auf ihrem Weg zum Pier an uns vorbeikommen. Ich machte Lucy ein Zeichen, und wir rutschten beide nach unten, bis das Mädchen an uns vorbeigegangen war. Sie lief direkt unter einer Straßenlaterne vorbei und ließ sich dann,gar nicht weit von uns, auf einer der Bänke nieder, von denen aus man einen Blick auf den Strand
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