Die Macht der Steine
sich nicht vollständig geschlossen, und sie vernahm ein leises Ticken im Hintergrund. Beim Versuch, die Paneele aufzuhebeln, brach sie sich einen Fingernagel ab. Sie kniete sich im Bett hin und hämmerte gegen die Täfelung.
»Antwortet mir!«
Das Ticken brach ab. Sie wich zurück und rutschte dabei über das Bettzeug, das sich unter ihren Knien’ straffzog. »Wo seid ihr alle?« Sie stand kurz vor der Panik. Hatte sie die Stadt zu weit getrieben? Hatte sie schließlich einfach aufgegeben und war gestorben?
Die Tür des Appartements glitt auf, und ein Arbeiter trat ein.
»Benötigst du Hilfe?« fragte er und streckte eine messingfarbene Extremität aus.
Sie stammelte etwas, schloß dann den Mund und schüttelte den Kopf. »Es war nur ein Traum«, sagte sie. »Ich hatte geträumt, ein Kind zu bekommen.«
»Das hast du auch«, sagte der Arbeiter.
Sie nickte langsam und setzte sich auf den Stuhl am Computertisch. »Was habt ihr mit ihm vor?«
»Man wird sich um das Kind kümmern.«
»Und dann?«
»Du hast alle Ansprüche auf das Kind abgetreten.«
»Ja«, bestätigte sie. »Was sollte ich auch mit einem solchen Ding anfangen? Einem Monster. Einem Ungeheuer.« Ihre Stimme wurde schriller. »Warum laßt ihr es am Leben?«
Der Arbeiter antwortete nicht. Reah mutmaßte, daß er auf eine derartige Frage wohl nicht programmiert war. Er konnte ihre Worte einfach ignorieren, wenn sie keinen Sinn ergaben, genauso, wie er einen Rülpser oder Gestammel ausblenden konnte. »Aber was kümmert’s mich überhaupt?« fragte sie. »Es ist eh vorbei.« Sie deutete auf den Rechner. »Dieses Appartement ist unvollständig. Beschaffe mir ein geeigneteres.«
»Natürlich«, sagte der Arbeiter und verließ den Raum, wobei er ihr bedeutete, ihm zu folgen.
Es war eine Woche seit der Reise verstrichen. Ezeki hatte die Zeit damit verbracht, sich in die Bedienung der Appartement-Computer einzuarbeiten. Obwohl der Datenservice nur sporadisch erfolgte, war er schier verzaubert. In der einen Woche hatte er mehr gelernt als in den vergangenen Jahren. Musa bekam ihn nur selten zu Gesicht.
Durragon hatte die Klinik verlassen und unternahm Streifzüge durch die Stadt. Ihre Schönheit war atemberaubend. Er wollte die Stadt unbedingt haben. Er hatte die Dinge schon immer erst dann richtig würdigen können, wenn sie sich definitiv in seinem Besitz befanden. Nun, mit der Gelegenheit, so viele Dinge zu tun, tat er gar nichts, sondern spazierte einfach nur umher und machte eine vorläufige Inventur. Er entwickelte weitere Pläne.
Aus der renovierten Steuerzentrale verfolgte Reah ihre Bewegungen – sie beobachtete Musa, der im Hof saß und sich sonnte; sie beobachtete Ezeki durch den Sender in seinem Monitor; aber am gründlichsten observierte sie Durragon bei seinen Streifzügen.
Sie selbst trat nicht in Erscheinung. Sie blieb in dem verkürzten Zentralturm und führte eine eigene Inventur durch, wobei sie eine Beurteilung der reduzierten Funktionalität und der Schäden der Stadt erstellte. Wie viele Kinder konnte sie jetzt noch unterbringen? Warum machte sie sich darüber überhaupt noch Gedanken? Sie hatte nicht einmal ihr eigenes Kind annehmen können – weshalb sollte sie sich dann mit Tausenden belasten, die nicht von ihr waren? Ihr ganzes Leben lang hatte sie Mitleid gezeigt, sogar als sie selbst unterdrückt wurde. Jetzt war es schwierig für sie, Mitleid zu empfinden.
Aber die Kinder würden ungeachtet ihrer Befindlichkeit kommen, und jetzt, da sie das Projekt einmal initiiert hatte, brachte sie es nicht über sich, es zu stornieren. Mit einem Arbeiter neben ihrem Stuhl und dem vor ihren Fingerspitzen wartenden Rechner, begab sie sich halbherzig an die Durchführung des Vorhabens. Die Appartements mußten gesäubert werden, aber viele Arbeiter waren während der Wanderung verlorengegangen. Erneut spürte sie eine Aufwallung von Zorn. »Warum könnt ihr ihn denn nicht rauswerfen?« fragte sie zum zehnten Mal.
»Er ist noch nicht völlig genesen.«
»Er ist einer von denen, die uns fast vernichtet hätten!«
Die Stimme des Homunculus war monoton und emotionslos. »Die Stadt hat noch immer Funktionen zu erfüllen.«
Reahs Haß war unbeschreiblich! Dennoch konnte sie nicht weinen. Ihr Nacken war verspannt. Sie war sich nicht einmal sicher, wen oder was sie mehr haßte – war es nun Durragon oder dieser schreckliche Funke, der sie immer dann durchfuhr, wenn sie die vollständige Kontrolle über die Stadt übernahm? Dieser
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