Die Macht der Steine
Funke haßte sie indes anscheinend auch…
Gegen Abend begab sie sich steifbeinig und langsam an ihre Wanderung über die obere Promenade. Der Arbeiter folgte ihr.
Sie observierte die Jäger.
Sie dachte an Abram Iben Khaldun, der schon lange tot war, und an ihre Tochter. Was würde wohl aus dem neuen Kind werden? Wo hatte die Stadt es untergebracht? Langsam erlosch der Zorn in ihrem Innern – noch immer fruchtbar, wie der Samen in einer toten, vertrockneten Frucht –, und es legte sich sogar der Haß auf den primitiven Abschaum, der sie vergewaltigt hatte.
Sie konnte die Hilflosen und Schutzlosen nicht hassen, nicht einmal die Dummen und Rüpel. Sie waren alle Opfer. Sie waren Produkte eines Bösen, das den Verstand transzendierte, Produkte einer Philosophie, welche die überragende Intelligenz der Stadtbewohner und Städteplaner zersetzt hatte. Aber sie konnte nicht einmal mehr diese hassen. Vielleicht hatten sie noch am meisten von allen gelitten.
Wen haßte sie dann überhaupt noch? Sie blieb stehen und spürte den sich in ihrem Kopf aufbauenden Druck, als ob sie ein vor dem Siedepunkt stehender Topf wäre. Sie hob die Hände. »Allaaa-a-ah!« wimmerte sie. »Hilf mir! Du verachtest mich, du quälst mich, hilf mi-hi-hir!«
Sie fiel auf die Knie und hob die Hände. Die Tränen strömten über ihr Gesicht. Das war schwach, sehr schwach; das war die Kapitulation vor dem erneuten Wahnsinn… vor den summenden Insekten, den läutenden Glocken, dem Schmutz und dem Abfall. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Ihr schmächtiger Körper schüttelte sich. Ihr buntes Gewand bildete einen unregelmäßigen Kreis um sie, wobei die Konturen sich mit ihren Krämpfen veränderten.
Sie schaute flehentlich auf. »Allah, mein ganzes Leben habe ich dir gedient, dich nie verflucht – nicht, bevor ich dem Wahnsinn verfiel und diese Stadt betrat –, mein ganzes Leben bin ich eine gute Muslimin gewesen, gehorsam und treu. Nicht einmal habe ichdavon geträumt, mehr zu sein, als ich war, und doch hast du mir immer wieder Heimsuchungen aufgebürdet, bis ich schließlich zerbrach. Wozu stellst du mich auf die Probe?« Sie hatte das Bild eines Männerclubs vor Augen – Dschinns und Propheten und ins Paradies aufgestiegene Männer –, der sich um einen schemenhaften, maskulinen Allah scharte, mit Mohammed an der Spitze, in einer Stadt mit juwelenbesetzten Minaretten und Mauern aus Stein und Gold und Toren aus Perlen… und das alles schaute leicht amüsiert auf sie herab. Sie hatten das Leben transzendiert, und das Leiden der noch in den weltlichen Niederungen Gefangenen wirkte auf sie wie herumwuselnde Ameisen. Sie würde niemals in solche Höhen aufsteigen. Sie war nur eine Frau, hatte eigentlich keine Seele und war an die Erde gefesselt. Ihre Gezeiten wurde von den Bewegungen eines Mondes bestimmt, der so weit entfernt war, daß es ihre Vorstellung übertraf. Ihr Blut unterlag dem Ablauf von Ebbe und Flut, sie war unrein, sie trug das Tor zur Schöpfung, sie war das Objekt der Begierde und des Abscheus. Sie war nicht einmal sehr begehrenswert. Willst du Kinder, geh zu einer Frau. Willst du Vergnügen, geh zu einem Knaben. Willst du Freude, geh zu einer Melone! Solche schmutzigen Reime hatte man ihr als Kind nachgerufen, Jungen und sogar Mädchen, blasphemisch wie alle Kinder, wenn sie unbeaufsichtigt sind. Sie kannten kaum die Bedeutung dieser Worte. Sie hatte sich immer gefragt, was die Männer wohl mit einer Melone anstellten, bis sie schließlich erfuhr, daß der bloße Verzehr einer Melone für besser und erstrebenswerter erachtet wurde als der Umgang mit einer Frau. Das war der Gipfel der Diskriminierung.
Und doch wandte sie sich in ihrer tiefsten Verzweiflung an Allah. »Allah«, murmelte sie mit in den Armen verborgenem Kopf und vornüber gebeugt. »Allah.« Die Insekten summten.
Und… was war das? Ihr war, als ob sie ein Lied hörte. Sie drehte sich um… und die Vergangenheit fiel von ihr ab, als ob sie ihr ganzes Leben durch einen langen Tunnel gestürzt und erst jetzt ins Sonnenlicht eingetaucht wäre. Sie spürte, wie sie hochgehoben und mit etwas verbunden wurde, nicht wie zwischen Mann und Frau, sondern… sie durchforstete ihr zuletzt angeeignetes Wissen – wie ein Molekül, das sich mit einem anderen Molekül verbindet. Sie war sehr klein, aber bedeutend, und das Ding, mit dem sie so formschlüssig verbunden wurde, war groß und entzog sich ihrer Erkenntnis, aber sie liebte es. Sie legte die Kleider ab
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