Die Macht der Steine
»Kinder?« sagte er mit ansatzweise fragendem Unterton.
»Vielleicht Tausende.«
»Ich weiß nicht, was du meinst…«
»Die Stadt wird so viele Kinder aufnehmen, wie ihre Kapazität es zuläßt. Die Kranken, diejenigen, die draußen verloren wären. Ich habe die Leitung dieser Aktion übernommen.« Sie musterte die beiden anderen und versuchte sie anhand ihres Gesichtsausdrucks zu beurteilen. Sie stehen nicht mehr hinter ihm, erkannte sie. »Ich könnte eure Hilfe gebrauchen. Es wäre schwierig, wenn ich es allein schaffen müßte.«
»Es existieren jetzt weder genug Räumlichkeiten noch Behandlungsmöglichkeiten.«
»Unsinn.« Sie sah ihn wieder skeptisch an. »Du bist ein Führer. Jedenfalls bist du einmal einer gewesen. Du könntest helfen.«
»Ich…«
Sie brachte ihre verbale Überlegenheit zum Tragen. Sie war ihm über; er wurde schwächer. »Aber du kannst auch gehen.«
»Nein«, widersprach er grinsend. »Das kann ich nicht.«
»Dann komm mit mir.« Sie ging an ihm vorbei. Sie wichen ihr stolpernd aus, und Durragon wirbelte mit rot angelaufenem Gesicht herum. Er runzelte die Stirn, und seine Hände ballten sich intervallartig zu Fäusten. »Kommt«, wiederholte sie und drehte sich zu ihnen um. »Ich werde euch alles Notwendige zeigen.« Sie setzte ihren Marsch fort. Sie vertraute ihnen – oder Durragon – ungefähr soviel, wie sie einem Skorpion vertraut hätte. Aber selbst mit dem ihnen zugewandten Rücken verspürte sie keine Furcht. Sie war hier die Herrscherin.
Durragon hielt Ezeki und Musa zurück, als sie ihr folgen wollten. »Später«, rief er. »Wir werden später mit dir gehen.«
Ezeki schaute ihn verwundert an. »Laßt sie gehen«, grummelte Durragon. »Wir werden erst einmal den Turm inspizieren.«
Aber die Tür blieb für sie versperrt.
Als sie sich im Appartement befand, die Tür verschlossen und einen Arbeiter postiert hatte, entspannte sie sich und spürte einen Teil ihres Selbstvertrauens verfliegen. Sie hatten sie überrascht und waren so nah gewesen… Und sie hatte sich wie ein Narr verhalten. Was hatte sie denn im Gesicht des alten Mannes und des Moslems gesehen? Hatte sie vielleicht daraus folgern können, daß sie sich ihr anschließen und von Durragon abwenden würden? Sie schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihr in die geschlossenen Augen. Sie war so schwach, und was sie vorhin verspürt hatte, war ein Moment mädchenhafter Naivität, Schwäche… des Überschwangs gewesen. Moleküle, die sich miteinander verknüpften! Jugend und Schönheit für immer! Wohl eher Bitterkeit und Tod.
Sie verdrängte eine Anwandlung von Apathie und versuchte sich wieder in dieses Gefühl der Verbundenheit, der Ekstase, hineinzuversetzen. Es war nicht mehr da. Wie konnte sie sicher sein, daß es überhaupt je existiert hatte? Würde es sie vor Durragon beschützen? Wenn sie sich irrte und der alte Mann und der Moslem ihr nicht wohlgesonnen waren, dann stand sie ganz allein. Allein mit einer noch immer schweren Bürde an Widersprüchen, Neurosen und Ängsten… allein mit der Stadt. Wiederauferstehung.
Konnte sie die beiden von Durragon isolieren und mit ihnen sprechen. Es war unwahrscheinlich.
»Denke an die Kinder«, sagte sie laut, aber die Verwirrung blieb.
Während Durragon schlief, trafen sich Musa und Ezeki hinter einer Brüstung mit Blick auf den Zentralschacht, mehrere Ebenen oberhalb der Unterkunft des Apostaten. Sie setzten sich und sprachen dem städtischen Wein zu, der keine berauschende Wirkung hatte. »Ich hätte jetzt gern etwas mit mehr Pep«, gestand der alte Mann, hob das Glas und betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit.
»Damals, auf der Erde, pflegten meine Leute nichts… äh… Gehaltvolles zu trinken. Ebensowenig die orthodoxen Moslems auf Gott-der- Schlachtenlenker. Also werde ich durch Wiederauferstehung geläutert.«
»Was sollen wir tun?« fragte Ezeki.
»Er wird sie bald töten.«
»Wir sind jetzt schon seit fünf Jahren bei ihm. Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen.«
»Die Stadt zeigt uns andere Möglichkeiten auf.«
Ezeki schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich würde ihn ja verlassen. Würde ich wirklich. Aber was sollen wir denn mit einer solchen Stadt anfangen? Uns heilen lassen, um dann verjagt zu werden?«
»Wir sind bereits geheilt.«
»Dann können wir jederzeit hinausgeworfen werden. Aber wenn er sie tötet und das Kommando übernimmt… dann können wir vielleicht bleiben. Die Stadt hat sie ja auch bleiben
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