Die Macht der Steine
Draht fiel in Durragons Hände.
Die Stadt hatte ihn gerettet. Der Jäger mußte ein Messer geworfen und ihn damit vom Pferd geholt haben, aber die Stadt, wie eine eifersüchtige Geliebte, die darauf wartete, ihm seine Wünsche zu erfüllen, hatte ihn gerettet. Seine Brust schmerzte. Wo war das Messer? Die Sterne standen am Himmel. Die sich selbst auslöschenden Sterne…
Dinge bewegten sich um ihn herum, lautlos wie Gespenster. Große Dinge. Er konnte die Vibrationen ihrer über die Erde trampelnden Füße spüren. Beine stachen in die Luft wie Kolben, gigantische marschierende Insekten… was? Rufe ertönten.
Nässe überzog seine Hand, dunkle Nässe im grauen, sternenerleuchteten Nachthimmel… was?
»Ich bin verletzt!« Er führte die Hand an den Mund. Er öffnete und schloß sich im Rhythmus der Geräusche. Die Geräusche kamen von ihm selbst. Er stand auf und griff nach einem dunklen Klotz, der sich schnell vorüberbewegte. Er fand an einer Kante Halt und packte sie, wurde hochgerissen, und etwas Großes nahm ihn vorsichtig auf, damit er nicht von den Ketten zermalmt wurde.
Im Sternenlicht kreiste Wiederauferstehung Akkabar ein und rekonstruierte sich von neuem.
Die Stadt lag dunkel und leblos in der Nacht. Ihre Teile setzten sich stöhnend zusammen, ein gruseliger Klang, durch den sich die Haare auf Ezekis Nacken sträubten. Musa flehte laut zu Allah, wie ein Kind.
Zwei Tage und zwei Nächte umkreisten die führerlosen Jäger Wiederauferstehung und versuchten sich Einlaß zu verschaffen. Die Barrieren, obschon deutlich reduziert, hielten. Der Gesang der Jäger übertönte den Wind und die Geräusche der Stadt:
(E)»Dat wir; säubern und reinigen, Sünden von Mensch
Und Tier, und Deibel fahr’n aus dem Dunkel,
Dat wir, tapfere Männer alle…«
»Es gab einst ’nen alten Gott, un’ dat ich brach den
Pakt mit diesem schrecklichen ollen Scheitan genannt Day-o, Und tot se alle liegen oder weinen vor Schmerz
Um de Vadder und Mudder von mi-o…«
Als am dritten Tag die Sonne fast schon im Zenit stand, drangen die Gesänge noch immer an Musas und Ezekis Ohr. »Ich hätte mich eben nicht mit Ungläubigen einlassen dürfen«, sagte Musa, der zusammen mit Ezeki auf dem Rücken des deaktivierten Transporters saß. »Sie sind von schlichtem Gemüt.« Das Fahrzeug war auf einer deutlich reduzierten Version der Galerie abgestellt, welche früher die Stadt umgeben hatte.
»Wohl im Laufe der Jahrhunderte degeneriert«, mutmaßte Ezeki. »Möchte ein Teil von dir denn nicht manchmal auch das tun, was sie tun?«
Musa ballte eine Faust und schüttelte sie in der Luft. »Ja, aber ich bin doch nicht verrückt. Ich höre nicht auf die Stimme von Scheitan in mir.«
Ezeki packte den Arm des Moslems. »In diesem Augenblick haben wir keine Vergangenheit. Wir sind von unseren Expolis und von Durragon ins Exil geschickt worden. Daher sollten wir versuchen, gemeinsam zu überleben. Wir haben denselben Gott, wenigstens in einigen Aspekten. Und welcher Ort könnte wohl bessere Überlebensmöglichkeiten bieten als die Stadt?«
»Du bist noch verrückter als die Hunde dort draußen«, befand Musa.
»Mitnichten. Jeden Tag werden wir uns die Arme aufritzen und in die Klinik gehen und sagen: ›Schaut, unsere Verletzungen sind noch immer nicht geheilt… kümmert euch um uns!‹«
Sie lachten unter dem strahlend blauen Himmel, bis sie sich gegenseitig stützen mußten. Dann faßten sie sich an den Unterarmen und erklärten ihre Bruderschaft aufgrund gemeinsamen Irrsinns.
»Wo ist die Frau?« fragte Musa in plötzlicher Ernüchterung. »Ist sie umgekommen? Sind wir allein hier?«
Ezeki schüttelte den Kopf. »Wir können uns in der Klinik umsehen. Und wenn sie nicht dort sein sollte, ist die Stadt noch immer groß genug, um jemanden zu verbergen, der nicht gefunden werden will.«
Sie verbrachten eine Stunde mit der Erkundung des veränderten Grundrisses der unteren Sektionen der Stadt. Die Klinik war näher zum Zentralschacht verlegt worden; Abschnitte der aus der Außenwand hervorspringenden Verstrebungen waren versengt. Die Stadt machte jetzt einen überwiegend schäbigen Eindruck, aber die Grundfunktionen wurden noch immer aufrechterhalten. Durragons Truppen mochten die Stadt zwar angeschlagen, aber nicht erobert haben. Sie betraten das Hospital und inspizierten die kleinen Kammern mit ihren Betten. Im letzten Raum sahen sie eine auf einem Tisch ausgestreckte Gestalt. Sie war in grünes Licht getaucht und
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