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Die Macht der Steine

Die Macht der Steine

Titel: Die Macht der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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und stand nackt da, das Gewebe zu ihren Füßen. Ihre Brüste waren straff, der Bauch flach, das Haar glatt und rotgold, und Honig hing zwischen ihren Beinen. Dann war auch das verschwunden, und sie war wie ein dünnes Goldplättchen, das in einem elektrischen Feld zitterte.
    »Was mache ich hier?« fragte sie, und ein herzhaftes, gutmütiges Gelächter schien das größere Molekül erbeben zu lassen.
    Du bist noch nicht soweit?
    »Nein«, sagte sie. »Das bin ich nicht.«
    Und sie schwebte abwärts, weder traurig noch verzweifelt ob dieser plötzlichen Entlassung. Sie war wieder angezogen und marschierte zielstrebig und energisch einen mit Bäumen gesäumten Korridor entlang. Sie lachte bei jedem Baumstamm, jedem Blätterbüschel. Sie waren von der Stadt mitgenommen, liebevoll vor dem Feuer und den Jägern beschützt und hier eingepflanzt worden, damit sie unter ihnen lustwandeln konnte. Sie waren alle Teil der Stadt. Und auch sie war Teil der Stadt, denn die Stadt hatte eine Seele. Wenn sie auch deformiert war, so lebte sie doch mit all ihren Sehnsüchten. Nun mußte sie diese Sehnsüchte verwirklichen und sie das Überleben lehren, wie eine Mutter ihr Kind unterweist.
    Durragon hatte sich in einer Entfernung von fünfzig Metern hinter einer Baumgruppe versteckt. Musa und Ezeki standen bei ihm. »Das ist die verrückte Frau«, stellte er fest. Sie nickten. »Wie kontrolliert sie die Stadt?«
    »Das wissen wir nicht«, sagte Ezeki. »Wir haben sie nur ein paarmal gesehen.«
    »Sie geht, als ob sie betrunken wäre. Schaut, wie sie die Hand ausstreckt und die Bäume berührt. Was befindet sich im Innern des Turms?«
    Reah betrat einen halbkreisförmigen Durchgang, und eine breite Tür schloß sich hinter ihr. Ezeki seufzte und streckte die Hände aus. »Wir haben diesen Ort eben zum erstenmal gesehen.«
    »Ihr habt Zeit vergeudet«, tadelte sie Durragon. »Wir müssen mit ihr sprechen und sie überreden, wenn das möglich ist. Sie macht einen harmlosen Eindruck. Eine verrückte alte Frau. Wenn die Stadt ohne sie auskommt – wenn wir sie auf die gleiche Art kontrollieren können wie die Frau –, falls sie es denn tut…« – er warf den beiden Männern einen vielsagenden Blick zu –, »dann können wir auch auf sie verzichten.«
    Musa betrachtete seine Füße. Er war des Kämpfens und Tötens überdrüssig. Der alte Habiru mußte auch müde sein, vermutete er. Und doch war Durragon in der Lage, sie wie naive Jäger auf Trab zu halten.
     
    Die Kinder waren unterwegs, gerade eine oder zwei Tagesreisen entfernt. Sie fragte sich, was die Eltern wohl empfunden hatten – falls es überhaupt noch Eltern gab. Hatten die Maschinen sie wahllos entführt oder nur diejenigen aufgesammelt, die unheilbar krank oder verlassen waren? Womöglich hatten die Dörfler auch geschlafen und nichts gesehen, oder vielleicht hatten sie die Maschinen auch als gesandte Engel interpretiert. Sie saß auf dem Stuhl und spähte durch die weitreichenden Augen der Stadt. Die Beine schmerzten, und die Brüste wirkten nicht mehr straff und das Haar nicht mehr kräftig und seidig – aber das war ohnehin nur eine Vision gewesen. Die Wirklichkeit war wichtiger. Das Ziel, die Energie. Sie schloß die Augen und entspannte sich. Draußen wurde es bereits dunkel. Sie konnte ihr Appartement aufsuchen, sich säubern und zu Bett gehen, vielleicht nach einigen Stunden aufstehen und die Sterne betrachten, dann den Rechner einschalten und die Speicher der Stadt etwas diskreter anzapfen.
    Steif erhob sie sich vom Stuhl. Die Bildschirme und sonstigen Geräte deaktivierten sich automatisch hinter ihr, als sie zur Tür ging. Es waren jetzt nur noch wenige Arbeiter zugange; keiner folgte ihr. Um sich sicherer zu fühlen, würde sie einen in ihrem Appartement postieren.
    Die Luft war kühl und roch nach Pinien. Der Himmel über ihr hatte eine kräftige königsblaue Färbung angenommen, die von feuerroten Wolken durchsetzt war. Die Sterne und eine Mondsichel kamen zum Vorschein. Sie schaute nach vorn.
    Drei Männer standen vor ihr. Sie blieb verwirrt stehen, mit seitlich herabhängenden Armen. Durragon trat vor und lächelte.
    »Es ist Zeit zu reden«, meinte er.
    »Ich verstehe.«
    »Wir müssen uns darüber unterhalten, was wir für diese Stadt tun können.«
    »Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, wandte sie vorsichtig ein, »die Kinder werden in ein oder zwei Tagen kommen. Ich muß Vorbereitungen für sie treffen.«
    Durragons Lächeln verschwand schnell.

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